Amsel
Die Amsel begleitet mich schon lange. Und lange Zeit wusste ich nicht, wie dieser Vogel heißt, der immer mal wieder meine Aufmerksamkeit auf sich zog.
Ich erinnere mich, es war Anfang der Achtziger, ich war Punk, arbeitslos, auf der Suche und wiederum nicht. Die Tage nahm ich wie sie kamen. An einem Sonntag ging ich frühmorgens durch die menschenleeren Straßen nach Hause, von einem zum anderen Ende der Stadt. Der nasse Asphalt glänzte im Schein der Straßenlaternen. Der Laden aus dem ich kam, war der einzige, in dem einmal im Monat gute Musik lief: Eine abgetakelte Arbeiterkneipe mit einem großen Gesellschaftsraum hinten durch. Auf einem Podest der DJ, an den Wänden Bänke wie in einer Turnhalle. Mit ein paar Gleichgesinnten wartete ich betont gleichgültig auf die Punksongs. Das war unser Moment. Sex Pistols, The Ramones, The Clash. Zwei, wenn es hochkam, auch drei Songs. Dann gehörte die Tanzfläche uns und wir poggten leidenschaftlich, zerrten an unsere Jackenkragen, sprangen uns an und schubsten uns absichtlich in umstehende Gästetrauben, danach ganz ausser Atem. Wir wussten, dass wir gute Unterhaltung boten, fühlten uns rebellisch, als etwas besonderes und zugleich respektiert.
So riß ich danach oft meine Kilometer durch die einsame Stadt ab, wenn ich niemanden fand, der mich mitnehmen wollte. Und die Amseln begleiteten mich. In den Häuserschluchten hallten ihre Gesänge und ich schaute zu Giebeln und Dachrinnen, ohne die Geduld, die Sänger zu entdecken, die mich manchmal in eine melancholische Stimmung versetzten.
Einige Jahre später, immer noch arbeitslos und depressiv dazu. War erwacht aus einer Erstarrung, die ganze Nacht in einem Sessel gebannt. Es dämmerte und ich konnte wieder aufstehen. Mit benommenen Kopf lief ich durch die kleine Wohnung, hin und her, als wollte ich nicht glauben, dass meine Glieder wieder ganz allein das taten, was sie immer taten. Draußen wurde es hell. Ich öffnete das Fenster. Ich sah einen jungen Baum, im frischen hellen Grün. Ich staunte, ich sog alles in mich auf. Es duftete nach Offenbarung, es roch nach Aufbruch. Ich hörte dem Gesang der Amsel zu. Schön, dachte ich traurig. So schön. Alles wurde eins und neuer Mut strömte durch meine Glieder.
Es vergingen noch viele Jahre, bis der Vogel mit dem lieblichen Gesang einen Namen bekam. Ich hatte geheiratet. Meine Frau wohnte in einem ruhigen Haus mit einem Garten. Manchmal schauten wir aus dem großen Fenster der Küche und beobachteten begeistert die Vögel des Gartens. Eine schwarze Amsel war auch dabei. Wir freuten uns über ihr energisches Hüpfen, den schiefen Blick, bevor sie auf die Beute stieß. Wir bewunderten den gelborangenen Schnabel der Männchen, der zu ihrem Gesang passte. Wir lernten Weibchen und Männchen unterscheiden, erkannten ihre Stimmen wie im Schlaf, beobachteten begeistert, wie hingebungsvoll sich ein Männchen um ihren Nachwuchs kümmerte, einem Vogelball, der hüpfend und bettelnd die Beute einforderte und sich im Unterholz versteckte, wenn sein Ernährer davonflog. Und Mut haben sie, diese Vögel des Unterholzes aus den Urwäldern Europas. Einmal griff ein Männchen eine Katze an, die erschrocken das Weite suchte. Und schimpfen können sie, wenn eine Elster sich dem Nest nähert, ohne dass diese die kleinste Chance hätten, sich als Nesträuber zu bewähren. Als Opfer aber machen Amseln keine so gute Figur. Einmal saß im Garten ein Greifvogel auf dem Vogelhaus und rupfte seelenruhig das schwarze Federvieh.
Die Jahre vergehen, die Amsel scheint mir seltener zu werden. Was sie nicht davon abhält, mich aus dem Schlaf zu reißen. Ich bin längst geschieden, mein Schlaf ist noch leichter als sonst, die Amsel nichts besonderes mehr. Sie sitzt auf der Dachrinne über meinem Fenster und schmettert in einer Lautstärke, die mich nervt, obwohl ich nicht genervt sein will. Ich brauche den Schlaf, ich bin totmüde. Gereizt öffne ich das Fenster, um sie zu verjagen. Ich drehe den Kopf und da sitzt sie, wenige Meter von mir entfernt. Ungerührt schmettert sie ihr Lied. Die singt nicht gerade virtuos, denke ich. Stören läßt sie sich nicht. Ich beobachte sie, lasse sie singen. Ich schliesse das Fenster ganz, dann geht es. Wie sich alles ändert, denke ich noch, als mir der alte Weg nach Hause wieder einfiel und meine melancholische Stimmung im Amselgesang.
© März 2020 by Wandelkern Lesermail