Angst 1983

1983. Urlaub in Großbritannien, gefahren bis nach Betty Beach, zum letzten Ort im schottischen Norden. Ich war zusammen mit meiner ersten Liebe, ich nenne sie Betty, das passt gut. Betty war acht Jahre älter als ich, etabliert im Beruf und szenebekannt. Ich war Punk, ein politischer Punk ohne Attitüden, unfreiwillig mittellos und mit vielen Ideen im Kopf. Lesen wollte ich, viel verstehen wollte ich, vor allem auch heraus aus dem schwarz-weißen Denken, das mir knapp anderthalb Jahre lang stalinistische Sektierer eingetrichtert hatten, bis ich die WG und die gerade erst gegründete Partei verließ. Danach denunzierten mich die zwei aus Süddeutschland abgestellten Funktionäre als Spitzel des Verfassungsschutzes, weil ich meinen jüngeren Bruder, den ich agitiert hatte, eindringlich vor den gemütlichen Küchen warnte, in denen bei Tee, Kaffee und Bier die Hirne junger Menschen gewaschen wurden. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich wollte produktive Arbeitslosigkeit leben, so nannte ich mein neues Leben nach der Kündigung meiner zweiten Ausbildung als Elektromaschinenbauer, die mir trotz meines Alters großzügig zugestanden wurde, wohl wegen der guten Berufsschulzeugnisse aus meiner ersten Ausbildung als Strippenzieher, die ich fünf Monate vor dem Ende zum Entsetzen aller abbrach. Die letzten Monate der dreieinhalbjährigen Ausbildung in dem Ausbeuterladen ohne einen Tag Berufsschulunterricht (der Blockunterricht des dritten Lehrjahrs war abgeschlossen), konnte ich mir nicht vorstellen. Drei Wochen später heuerte ich beim Autobauer meiner Stadt an und verdiente mir in sechs Monaten den Anspruch auf Arbeitslosengeld. Dann kündigte ich. Sicher hätte der Konzern mich gerne behalten, so gut verstand ich die Akkordarbeit vom Rohbau bis zur Fertigmontage zu leisten, ob am Fließband oder an riesigen Maschinen.

Bevor ich nach drei Kündigungen in die von allen Seiten prophezeite Gasse landete, lernte ich Betty kennen. Ich wohnte bei meinem Bruder Ludger und schlief auf seiner Couch. Das Arbeitslosengeld war zwei Monate gesperrt und ich schlug mich mit gesammeltem Münzgeld durch. Ich war oft zu Fuß und noch öfter als Schwarzfahrer unterwegs. Betty traf ich in der einzigen Szenekneipe weit und breit, Rottenstube gerufen, in der zu später Stunde ein paar Punksongs aufgelegt wurden, sonst hätte ich den weiten Weg zum anderen Ende der Stadt sicher nicht in Kauf genommen.

Ich habe keine Ahnung, wie oft ich Betty in der Rottenstube traf. Sie nahm mich einige Male in ihrem Auto mit. Sie wohnte in der Innenstadt, sodass mein Fußweg nach Hause nicht mehr so weit war. Eines Nachts hatten wir unterwegs ein gutes Gespräch, das schnell vertraulicher wurde. Sie stellte allerlei Fragen und ich antwortete vertrauensselig und dankbar. Ich erzählte über mein Leben als schwarzes Schaf der Familie. Ich erklärte ihr meine Pläne als produktiver Arbeitsloser, der sich weiterbilden wolle, wenn er erst einmal eine Wohnung habe; die Arbeitslosenkohle flösse ja bald wieder. Als sie in den Hof ihres Hauses einfuhr, fragte sie mich, ob ich noch mit hochkommen wolle, sie ginge eh noch nicht ins Bett, sie sei nach dem Tanzen zu aufgedreht und mache sich meistens noch ein überbackenes Käsebrot und einen Tee. Ich hörte mich heiser sagen, ja, gerne. Schüchtern folgte ich ihr durch einen großen Hausflur mit knarrenden Treppen und braunlackierten Geländern. Wir saßen eine ganze Weile in der Küche, sie kochte Tee und erzählte, dass ihre Eltern auch aus der Arbeiterschicht kämen und dass ihr Vater sich hochgearbeitet habe, um umso tiefer zu fallen, nachdem er einen Arbeitsunfall gehabt hatte, der ihn im Betrieb auf die unterste Stufe zurückwarf, worunter er bis zur Frühverrentung und danach noch sehr gelitten habe. Betty vertiefte das Thema nicht. Stattdessen lobte sie meine Ambitionen. Sie fände das bewundernswert. Solche Menschen wie mich treffe man eher selten. Ich wurde verlegen. Ich kam mir wie ein Glückspilz vor, der nicht wusste, wie ihm geschah: Eine gestandene Kunsthistorikerin mit fester Anstellung bei der Stadt interessierte sich für mich. Als sie mich nach kurzem Schweigen fragte, ob ich bei ihr pennen wolle, durchrieselte mich schüchterne Lust. Ich nickte verlegen und brachte sogar ein Gerne heraus. Sie führte mich in ihr Wohnzimmer. Das ist mein kleines Reich, sagte sie und ging ins Bad. Unsicher stand ich in ihrem Zimmer. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich sah nur ein Bett, ein sehr großes Bett, mit vielen bunten Kissen darauf und einer pinken Tagesdecke. Klug und mutig schloss ich das Naheliegende und zog meine Hose aus. Ich wollte mich gerade aufs Bett setzen, als Betty in einem langen T-Shirt aus dem Bad kam. Ich sah ihre Brustwarzen durchschimmern und ihr schwingender Busen erregte mich. Ich ging schneller ins Bad, als ich mir lieb war, auch um von meiner Erregung abzulenken. Als ich zurück kam, sagte sie, ich könne mich zu ihr unter die Decke legen, wenn ich Lust hätte. Im Bett streichelten und küssten wir uns, schneller als ich es beabsichtigen konnte. Ich spürte ihre Erregung. Wir waren ganz nah beieinander. Sie stöhnte. Ich stöhnte mit, aber ich war zu aufgeregt und mein unschlüssiger Lümmel verlor den Mut. Beschämt und die Augen auf ihre Schultern geheftet, gab ich zu, dass ich grad nicht könne. Ich schaute auf und Betty lächelte. Nichts dränge uns, das sei nicht schlimm, das sei ihr sympathisch. Ich entspannte mich. Ich sagte, dass ich mich sehr wohl fühle bei ihr. Das spüre und genieße sie. Erneut streichelten und küssten wir uns. Mein Kopf leerte sich und dann klappte die Vereinigung. Zum ersten Mal schlief ich mit einer Frau, die sich mir lustvoll hingab und mich damit auf eine neue Art erregte. Das war ein Lusterlebnis, das sich mir einprägte, so als würde tiefe Befriedigung nur noch mit Betty möglich sein, als hätte ich eine neuartige Lust entdeckt, die ungeahnt intensiv, geradezu zwingend war. Danach schlief Betty bis zum späten Vormittag und ich lag im Dämmerzustand neben ihr, gespannt, wie sie nach dem Aufwachen sein würde. Ich wurde nicht enttäuscht.

Ich sehnte mich nach der nächsten Begegnung und konnte es kaum erwarten, sie in der Rottenstube zu treffen. Nach der zweiten Nacht schrieb sie mir ihre Adresse auf und ich fing an, ihr lustige Briefe mit gebastelten Briefumschlägen zu schreiben, auf die sie schneller als erhofft, antwortete. Einmal rief ich sie aus einer Zelle an und sie gestand, dass sie meinen Humor sehr genieße und dass sie sich auf unsere nächste Begegnung in der Rottenstube freue. Wir lachten viel. In unseren Briefen und punkigen Postkarten wurden wir mutiger und trauten uns, uns zu necken und die Lebensweise des anderen auf die Schippe zu nehmen. Als ich schneller als erwartet eine Wohnung fand, kam sie anfangs mindestens einmal in der Woche zu mir und wir schliefen miteinander. Einmal lieh sie mir auch Geld. Ich hatte mir etwas zu viel Shit gekauft und stellte fest, dass ich nicht mehr genügend Kohle für den Monat haben würde, um die anstehende Rate für meine Schreibmaschine zu begleichen, eine kleine rote Olympia Monica, auf der ich Realsatiren über Punks, Autonome und Spießer schrieb.

Im Laufe der Monate ließ Betty sich immer weniger bei mir sehen, Gedanken machte ich mir darüber keine. Im Sommer verbrachte sie zwei Wochen in Südfrankreich. Ich weiß nicht mehr genau, wie lange sie schon weg war, als ich sie zu vermissen begann. Ich wurde unruhig. Mich überfiel eine Lust, die süß und bitter, kribbelnd und pulsierend über mich kam, eine Lust, die auch Sehnsucht war, eine ferne Sehnsucht, die ich ganz auf Betty ablud. Mir fiel ein, dass wir uns für den kommenden Samstag in der Rottenstube verabredet hatten. Sie würde zum Tanzen herüberkommen. Betty wohnte seit kurzer Zeit in einer neuen Wohnung mit Balkon. Praktischerweise ganz in der Nähe der Rottenstube. Sie teilte sie mit einer Freundin aus Kindheitstagen, mit der sie jetzt auch zusammen im Urlaub war. Ich nahm ein Blatt Papier und schrieb ihr einen Brief mit der Hand, da ich das bereits beschriebene Blatt in der Schreibmaschine nicht herausnehmen wollte. Ich schrieb, dass ich sie vermissen würde und dass ich kaum erwarten könne, sie wiederzusehen. Gerne würde ich schon Freitag zu ihr kommen, schließlich stände ja noch die erste Übernachtung in ihrer neuen Wohnung aus. Zuletzt schrieb ich noch ein paar freche Sprüche und Anspielungen auf das dreifach gefaltete und mit Heftklammern verschlossene Blatt, klebte extraschief eine Briefmarke darauf und warf das Werk in den Briefkasten. Danach onanierte ich und kam schnell. Die Lust auf Betty war wieder erträglich. Ich vergaß sie, und lieber hätte ich sie für immer vergessen, wenn ich gewusst hätte, was mich erwartete.

Am Freitag rief ich Betty aus einer Telefonzelle an und erreichte sie nicht. Gedankenschwer gab ich es nach vier Versuchen mit Pausen dazwischen auf. Als ich am Samstag in der Rottenstube auf Betty wartete, war ich voller Unruhe, die in eine böse Ahnung mündete, je später der Abend wurde. Ich ging einige Male durch dichte Trauben lauter Menschen vom Discoraum zum Eingang und schaute in die Richtung, aus der ich Betty erwartete. Ich dachte darüber nach, einfach zu ihr zu gehen, aber ich traute mich nicht, was ich als Feigheit auslegte. Ein ungeduldiges, sehnsüchtiges Entgegengehen deutete ich als Schwäche, die ich mir nicht eingestehen wollte. Das wäre nicht souverän — oh, souverän sein! Eine Wendung, die häufig zwischen Anspruch und Ermahnung in meinen Kopf pendelte. Souverän sein, souverän reagieren, souverän wirken. Ein mächtiger Selbstanspruch, der am Ende allzu oft meine Unfähigkeit bewies.

Mitten im Trubel eines vergnügungssüchtigen Treibens rang ich um Fassung. Als Bettys Freundin kam, hielt ich es nicht mehr aus und ging ihr entgegen. Bevor ich einen Satz herausbrachte, teilte sie mir mit, das Betty müde sei und heute nicht käme. Sie richte mir schöne Grüße aus. Ich fragte, ob Betty sonst nichts gesagt habe. Sie verneinte und verschwand durch eine qualmende Menschengruppe ins Treiben der Rottenstube. Jetzt hielt mich nichts mehr. Ich eilte bis zur Wohnungstür und starrte die ordentlich und sauber gereihten Klingeln an. Ich las ihren Namen. Ich zögerte, ich spürte Druck auf der Brust. Als ich endlich auf die Schelle drückte, spürte ich mein Herz bis zum Hals. Ich lehnte mich gegen die Tür. Gleich wäre ich befreit von süchtiger, sehnender, quälender Lust, gleich werde ich erleichtert in ihren Armen liegen und mit ihr schlafen. Doch jede weitere Sekunde des Wartens nährte böse Zweifel. Krampfig drückte ich ein weiteres Mal auf den eckigen Plastikknopf. Endlich ging der Summer.

Betty war abweisend. Sie umarmte mich nur kurz und gab mir keinen Kuss. Betty ging in ihr Wohnschlafzimmer. Sie war guter Laune und schien mir gar nicht müde. In aller Ruhe packte sie die Reisetasche. Ich spürte ihre Vorfreude. Sie war ganz weit weg von mir. Was denn los sei? Warum sie nicht gekommen sei? Bitte! Sie habe sich in einen Südfranzosen verliebt. Sie fliege gleich morgen zurück. Sie habe ja noch eine Woche Urlaub, die wolle sie nutzen. Ich begriff nicht, was sie sagte. Ich ging auf sie zu und legte meine Hand auf ihre Schulter. Sie drehte sich um und lächelte verzogen. Ob ich denn nicht einmal einen Kuss bekäme. Sie schien mich nicht zu hören. Ich hoffte hartnäckig, dass sie mich gleich wieder begehren würde und fragte, ob ich bleiben könne, Rottenstube ginge jetzt gar nicht mehr. Ihr passe das nicht wirklich, sie müsse schlafen, der Flieger ginge schon sehr früh. Aber wenn es nicht anders ginge, könne ich bleiben, aber laufen würde heute nichts, das müsse mir klar sein.

Im Bett lag ich neben ihr, unter einer eigenen Decke. Sie lag auf dem Rücken, gähnte und sagte trocken, gute Nacht. Dann drehte sie sich um. Ich legte hoffend eine Hand auf ihre Schulter und wartete. Ich hoffte mich dumm und dämlich. Es war doch immer so einfach zwischen uns. Sie dreht sich um, küsst mich zärtlich und streckt mir ihre nackte Brust entgegen. Ich streichle und küsse sie und schnell kommen wir zur Sache. Nichts dergleichen geschah jetzt. Stattdessen hörte ich, dass Betty kurz vor dem Einschlafen war. Ich flüsterte, dass ich nicht schlafen könne. Ich bat sie, sich umzudrehen und mich in den Arm zu nehmen, damit mir ein wenig leichter würde. Ich fragte sie, ob sie denn unbedingt fahren müsse, ob sie nicht bleiben könne, mir zu liebe. Betty bat mich, es doch einfach zu akzeptieren und fügte gähnend hinzu, dass sie jetzt wirklich schlafen müsse. Ich verstummte, wartete, wimmerte. Gerne hätte ich einfach nur geweint. Aber ich konnte nicht einfach weinen. Die Traurigkeit blieb immer in einem selbstmitleidigen Schluchzen stecken. Ich sah mich da liegen wie einer, der kriecht. Wut kroch heran und ließ sich nicht mehr mit Hoffnungsgedanken beruhigen. Mit einem Ruck stand ich auf, zog mich schluchzend und fluchend an. Am liebsten hätte ich geschrieen. Noch bis zum Zuschnappen der Haustür hatte ich die Hoffnung, sie würde es sich anders überlegen und mich zu sich holen. Aber sie schlief bereits, was ich als einen weiteren Schlag ins Gesicht empfand.

Kilometer um Kilometer ging und rannte ich durch die leeren Straßen. Ich heulte den nassen Asphalt an, die trostlosen Laternen, das parkende Blech in verwaschenen Tönen, die Fassaden mit dunklen, kleinen Fenstern. Einmal schrie ich und erschrak über mich selbst. Ich fantasierte mir Szenen herbei, in denen ich Betty weh täte, in denen ich sie im Stich und auflaufen liesse, in denen ich sie verlassen und betteln lassen würde. Aber das half mir nicht, das war kein Trost. Ich war einem niemals zu beruhigenden Druck auf der Brust ausgeliefert. Ich hatte keinen Schimmer, woher der kam, was er bedeutete, wie ich ihn loswerden könnte. Als ich endlich vor meiner Haustür stand, blieb ich wie in Trance davor stehen und sah ins Dämmerlicht. Amselgesang hallte. Als ich kurze Zeit später die heißgerauchte Wasserpfeife weglegte, fühlte ich mich weich und flüssig wie eine Amöbe und schlief ein.

Jedes Mittel war mir von nun an recht, um den beissenden Druck in der Brust zu lindern. Ich hatte nicht die geringste Ahnung davon, dass die Abweisung Bettys einen alten Schmerz angezündet hatte. Mir blieb nichts anderes als Betäubung.

In den Folgemonaten tickte ich in einem Polygon aus Wut, Selbstverachtung, Gleichgültigkeit, Größenwahn und Sehnsucht. Die Sehnsucht trank Schmerz und der Schmerz trank Sehnsucht und ich kiffte dagegen an. Ich zog jeden Abend harte, in der Lunge schmerzende Züge aus der Wasserpfeife, solange bis ich mich kaum mehr bewegen konnte und alle Gedanken in einem tiefen Nebel verschwanden, bis nichts mehr zu spüren war, außer eine dumpfe Müdigkeit. Vormittags wachte ich mit gereiztem Kopf auf und es reichten kleine Widrigkeiten, um mich gegen mich und die Welt aufzubringen. Manchmal trat ich vor dem Küchenschrank oder ging hasserfüllt irgendwelche Dinge an, die nicht so wollten, wie ich. Manchmal stand ich auch vor dem Spiegel und ohrfeigte mich für meine Dummheit und dafür, dass ich mich auf Betty eingelassen hatte. Ich erniedrigte mich mit dem Gedanken, dass sie recht tue, mich in den Wind zu schießen, mich elendes Arschloch! Die ersten Wochen nach meiner Flucht vor Bettys Abweisung verließ ich selten die Wohnung und wenn es schellte, hielt ich still und öffnete nicht. Ich wollte mich in dem Zustand nicht sehen lassen. Ich schämte mich. Einkaufen ging ich wie ein Verstohlener. Nur bei meinem Nachbarn Woschi ließ ich mich sehen, um mir ein paar Gramm Shit zu besorgen. Den obligatorischen Joint nach der Übergabe hielt ich gut aus. Woschi redete nicht nie viel und sein Dauerbesucher Otze immer dasselbe. Keiner von beiden erwartete, dass ich mehr als drei Wörter sagte. Nach dem Besuch versteckte ich mich wieder in meine Wohnung, froh, für die nächsten Tage versorgt zu sein.

Einmal traf ich Löty beim Einkaufen. Löty wohnte mit seiner Frau Magrit und dem zweijährigen Sid in der Hausmeisterwohnung der besetzten Schule, die in meiner Nähe lag. Ich habe ihn auf einem Solifest für vom Staat verfolgte Hausbesetzer kennengelernt. Ich kam mit einer Plastiktüte voll Dosenbier, Käsescheibletten und Konserven aus einem Discounter heraus, in dem die Niedriglöhner einkaufen gingen. Er stand vor mir in seiner Schlacksigkeit und einem schiefen Lächeln, das aus schmalem Gesicht wie von einem Turm auf mich herunterfiel. Er erzählte, dass die Halle in der City geräumt worden und dass sein Kumpel Birne von den Bullen zusammengeschlagen worden sei. Schlagstock immer drauf auf Arme und Kopf, Tritte vor das Schienbein. Die Schule würde sicher bald auch geräumt, der Stadt traue er nicht über den Weg. In der Zeitung habe gestanden, dass die Chaoten angefangen hätten. Das verlogene Blatt habe wieder nur verletzte Bullen gezählt, hier ein Kratzer und dort einer. Kein Wort über das Vorgehen der Bullen. Einer von den Autonomen sei mit Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert worden, auch Verhaftungen habe es gegeben. Die Pechvögel würden garantiert wegen Widerstands angeklagt, jede Wette!

Löty sagte das ohne Wut, als wäre das auf einem anderen Planeten passiert. Seine Augen schienen weit weg, nachdem er verstummte war und unruhig nach etwas zu suchen schien. Diese verdammten Wichser! sagte ich. Löty dann: Lass uns ma auffen Bierchen treffen. Machen we, hab grad nur nicht so Bock auf unterwegs. Mich kotzt der ganze Scheiß an, verstehse. Klar, sagte Löty und für eine Sekunde überlegte ich, mich ihm anzuvertrauen. Aber er kannte Betty noch nicht und war auch wieder ganz bei seinem Hund. Er leinte ihn umständlich an ein Fallrohr an. Magrit wartet, der Kleine kann ja noch kein Bier trinken, sagte er und grinste schief. Ich nickte und fuhr mit dem Hollandrad aus Parteizeiten nach Hause. Lötys Erzählung beschäftigte mich mehr, als ich mir eingestehen wollte. Ich sah meinen Hass auf Bullen, Staat und das Lügenblatt bestätigt und verlor mich in Gewaltphantasien. Schnell war ich wieder bei den verachtenswerten Politikern in der Regierung, die mit Kriegstreibern und Diktatoren paktierten. Und aus der Wut wurde überbordende Hilflosigkeit. Ich schien all der Macht und ihrem Zerstörungswillen ausgeliefert zu sein. Voller Wut trat in die Pedale. Ich beschloss, mir bereits am frühen Nachmittag einen kleine Dröhnung aus einer Purpfeife zu geben, was ich mir sonst verbot. Aber in diesem Tag schien mir auch die kleinste Treue zu mir selbst unmöglich.

Am nächsten Tag ging es mir überraschend besser. Die Wut von gestern hatte etwas in mir geweckt, Selbstbehauptung und kreativen Trotz. Ich spürte Lust, weiter an einer Satire zu schreiben, deren dritte Seite in der Schreibmaschine verstaubte. Mit müden Augen überflog ich einige Zeilen, verlor aber gleich wieder das Interesse. Hunger, dachte ich und beschloß, endlich einmal wieder in den kleinen Laden zu gehen, der an der Ecke am Ende des Häuserblocks lag. Ich freute mich auf Brötchen und Eier und hoffte auf neue Post. Immer mal wieder trafen in diesen Monaten Briefe und witzige Postkarten bei mir ein. Sie waren Antworten auf meine monatlichen Kleinanzeigen in zwei Programmzeitschriften. Tatsächlich warf der Briefträger an diesem Tag einen Brief für mich ein. Er lag in einem Luftpost-Umschlag, der mit ausladender schwarzer Schrift adressiert war. Er kam von einer Unbekannten aus der Nachbarstadt. Sie schrieb:

hallo, ich bin doris. deine anzeige hat mich total neugierig gemacht. mal echt watt anderes, nicht so langweilig wie die üblichen. ich bin 23, blond aber nicht blöd, wohne allein, quäle mich zur physiotherapeutin (massieren is aber was, was ich gerne tu, haha). musikmässig biste auf meiner wellenlänge. punk und dieses ganze deprizeugs, bin ich süchtig nach. ich würd dich gerne treffen, lieber morgen als übermorgen, haha. ich habe sogar telefon, geil, was! ruf mich einfach an, ich bin gespannt auf dich. warte aber nicht zu lang, sonst platze ich, haha.

Ich las den Brief ziemlich oft, während ich pappige Brötchen und Eier verschlang. Oft drehte ich ihn um, um noch etwas zu entdecken zwischen den kopierten Bildern. Auf einer Seite war eine mit Graffiti beschmierte Wand zu erkennen, auf der zweiten eine vierköpfige Gruppe, deren Gesichter im harten schwarzweiss nicht zu erkennen waren und die lässig vor einer Backsteinmauer standen. Dazwischen der mehr gekritzelte als geschriebene Text. Hochschiessende hs und ls wechselten sich mit dickbauchigen Vokalen ab. Eine verschwenderische Schrift. Sie war mir sympathisch, weil ich sie gut lesen konnte. Sie hatte sich ihren eigenen Briefbogen als Collage kopiert, das gefiel mir, das war mein Stil, und ich wusste, dafür waren Wege nötig. Nach dem Essen drängte ich mich, sie anzurufen, doch ich wollte mir Zeit lassen, was mir nicht gelang. Die Ungeduld drängte und zugleich drechselte sich Hoffnung zwischen den irrlichternden Gedanken. Hoffnung auf Erleichterung, Hoffnung auf leidenschaftlichen Sex, Hoffnung darauf, Betty einfach, schnell und für immer vergessen zu können.

Am übernächsten Tag holte ich Doris vom Bahnhof ab und wir fuhren mit der Straßenbahn zu mir. Ich war sehr angetan, als ich sie erblickte, zugleich erleichtert und froh. Ich erwartete nichts weniger als eine neue, spannende, tiefe, heiße, leidenschaftliche Liebe, als hätte ich nie einen anderen Wunsch gehabt. Wie gut sie aussah. Der blonde Bob mit den dichten, wippenden Haaren, darin eingerahmt ein zierliches Gesicht mit Stupsnase und zauberhaften Lippen, die einen Mund formten nahe an trotziger Naivität. Sie war einen Kopf kleiner als ich und hatte eine schlanke und doch kräftige Figur. Dazu die hellblauen Augen, die ich wahrnahm, als sie an meinem Tisch in der Küche saß und von ihrer lernintensiven Ausbildung erzählte. Am liebsten aber würde sie Musik wie Laurie Anderson machen, ob ich sie kenne. Natürlich, geile Mucke, beeindruckende Frau. Wir unterhielten uns bis in den späten Abend hinein. Sie fragte nicht nach der Uhrzeit, sondern wollte alles über mein Schreiben und meine Projekte wissen. Die letzte Straßenbahn war längst gefahren, als ich ihr lange in die Augen sah. Sie glänzten wie Kristalle im Schein der schwachen Glühbirne, die nackt von der Decke hing. Ich schwieg und wir sahen uns nur noch an, wobei ich ihren Blick nicht immer stand hielt. Zuerst lächelten wir noch verlegen, dann machten wir ein Spiel daraus und wechselten uns mit dem Gewinnen ab. Wir lachten verlegen, als uns klar wurde, dass sie bei mir bleiben müsse. Wir nahmen uns vor, dass wir einfach nebeneinander liegen würden, um zu schlafen. Eng lagen wir uns auf der kleinen Matratze gegenüber und die Spannung war nicht lange auszuhalten. Wir streichelten und küssten uns. Doris wurde forscher, was mich überraschte und mich geil machte. Sie setzte sich auf mich und rieb intensiv meinen Schwanz an einer Stelle, die sie erregte. Mir war das zu hart. Ich fühlte mich unwohl. Ich hätte gerne auf sie gelegen, traute mich aber nicht, sie zu unterbrechen. Ich war seltsam zahm gegenüber ihrer Bestimmtheit. Sie stöhnte leise, ohne sich zu steigern. Vielleicht spürte sie etwas, auf einmal hörte sie auf. Sie legte sich neben mich und fragte, ob was sei. Ich log und flüsterte, alles in Ordnung, ich sei nur müde. Ich zog sie an mich und sagte, dass ich gerne schlafen würde. Sie nickte und schien mir enttäuscht.

Den Rest Nacht schliefen wir so gut wie gar nicht mehr. Wir redeten immer mal wieder. Ab und zu küssten wir uns und ich streichelte ihre weiche Haut und die festen Brüste mit den kleinen zarten Höfen. Ich wollte nicht mit ihr schlafen, dachte aber, sie wolle das unbedingt und sah mich verpflichtet, mich einzulassen und auch Lust zu haben. Es dämmerte bereits durch die Ritze der schwarzen Fenstervorhänge, als ich mich über sie schwang, aufgestützt auf den Ellbogen, um sie ja nicht mein Gewicht spüren zu lassen. Ich glitt in sie hinein, was leicht gelang, aber sie war seltsam steif in den Beinen, was mich irritierte und dann meinen Kopf zum Laufen brachte. Ich hatte Sorge, meine Errektion zu verlieren und verlor sie. Sie lächelte, tröstete mich, indem sie mir Worte ins Ohr hauchte. Ich lag auf dem Rücken, sie streichelte mich intensiv und mein Schwanz wurde wieder hart. Doris schwang sich auf mich. Aber es blieb dabei, so machte mir das keinen Spaß. Kurz war ich dem Ärger nahe. Ich hatte meine unbedingte Lust auf einen Orgasmus verloren. Ich liess sie weiter machen, hielt sie einige Mal etwas zurück, wenn es mir weh tat und wunderte mich, dass meine Errektion hielt. Sie kam seltsam kurz, still und sah mich danach prüfend an. Ich schützte wieder Müdigkeit vor, um einem Gespräch zu entgehen und dachte traurig, sie ist es doch nicht.

Doris verliebte sich in mich. Die gemeinsamen Tage mit ihr halfen mir, das Kiffen einzuschränken. Ich brauchte es nicht mehr bis zur Quasi-Bewusstlosigkeit. Doris kiffte nicht und ich wollte nicht Gier und Sucht offenbaren. Doris belebte mich mit ihrem Erlebnishunger. Manchmal schlief ich mit ihr, in der Hoffnung, eine starke Lust zu bekommen, wie ich sie unwillkürlich bei Betty hatte. Aber das passierte nicht mit Doris, stattdessen war zunehmend ein Ungleichgewicht zwischen uns zu spüren, das durch ihre Sehnsucht und meine Fluchttendenzen entstand. Ich schwieg ihre Liebesbekenntnisse an. Auch nahm ich Unterordnung mir gegenüber wahr. Was ich auch tat und wollte, Doris zog mit. Das stiess mich ab, das reizte mich, gemein zu sein, aber auch nur, wenn ich mal wieder schlechte Laune hatte und mich trotzdem mit ihr getroffen hatte, obwohl ich meine Ruhe haben wollte.

Sollte Betty Doris sehen? Sie sollte Betty auf keinen Fall sehen, davon war ich überzeugt. Doch Doris wollte unbedingt in die Rottenstube, allein um mich beim Pogen zu sehen. Aber dann würde eine Begegnung mit Betty unvermeidlich sein. Mir war unwohl bei dem Gedanken, doch in einem entfernten Winkel meines Hinterstübchens hoffte ich, dass Betty da sei und mich mit Doris sehen sollte. Natürlich war Betty da. Sie stand am Rand der Tanzfläche, so wie es typisch für sie war, in aufmerksamer Beobachterposition, das Glas auf Brusthöhe und die Zigarette mit angewinkelten Arm nach oben haltend, zufrieden mit sich und der Welt. Ich wusste, dass Betty uns beobachtete, nahm aber zuerst keine Notiz von ihr. Ich unterhielt Doris, die sich in dem Laden pudelwohl fühlte und die ich den ganzen Abend sehr sexy fand. Sie hatte eine schwarze Gymnastikhose an und trug darüber einen engen, kurzen, abgerissenen Rock, der ihren Hintern betonte, was mich immer mal wieder mit einem selbstsuggestiven Seufzer hinsehen liess. Dazu trug sie ein verwaschenes T-Shirt mit Grauschleier, zwei Nummern zu groß, so dass eine Schulter zu sehen war. An dem Abend redete ich mir erneut ein, dass Doris nun meine neue Freundin und dass Betty mir gleichgültig sei. Mit einer seltsamen Genugtuung bemerkte ich, wie mich Bettys Selbstzufriedenheit, wie ich das nannte, kalt ließ. Betty ließ sich derweil eine Vorstellungsrunde nicht nehmen. Ich sah ihr die Neugier an, da konnte sie noch so gelassen auf uns zukommen. Betty gab sich einen für sie typischen Ruck, ich kannte die Art, wenn sie kleine heikle Dinge anging. Sie kniff kurz ihren Mund zusammen, zog dann einen Wimperschlag lang die Unterlippe nach vorne, schaute kurz auf den Boden und ging los oder sprach es aus. Doris war vorbereitet. Ich hatte ihr die Geschichte über Bettys Verrat erzählt, meine Verzweiflung aber verschwiegen, die mir nah und fremd zugleich war. Ich glaubte beim Erzählen tatsächlich selbst, dass mir das alles nichts mehr ausmachen würde, dass das vorbei sei und hatte bemerkt, dass Doris mich zweifelnd ansah.

Betty und Doris kamen schnell ins Gespräch. Ich wusste gleich, dass sie sich mochten. Doris war anfänglich etwas nervös, aber die einnehmende Art von Betty gab ihr Sicherheit. Betty wurde immer gutlauniger und lud uns zu einem Getränk ein, sie gingen zusammen zur Theke. Schneller als ich schauen konnte, stand ich allein am Rande des peinlichen und von Hippies dominierten Tanztaumels und hätte nicht einmal Lust auf Pogen gehabt, wenn Punkrock gerufen hätte. Zumal weit und breit kein anderer Punk zu sehen war. Nervös wartete ich auf die beiden Frauen, wusste bereits jetzt, dass meine heuchlerische Offenheit gegenüber Betty ein Fehler war, was mir zwei Themen und ein Getränk weiter bestätigt wurde. Betty hatte spitz gekriegt, das Doris und ich am kommenden Freitag am andere Ende des Reviers zu einem Auftritt der Womitmens fahren wollten. Was für ein Zufall, die wolle Betty auch sehen, da könnten sie doch zusammen fahren, sie habe doch ein Auto. Sie würde sogar den Bassisten der Band kennen. Doris fand das geil, wobei ich vermutete, das sie das nur gut fand, weil sie erleichtert war. Betty war unkompliziert und offen ihr gegenüber, was Doris bei Frauen nur selten erlebte. In ihrer Ausbildung, so erzählte Doris oft, seien die meisten Frauen ausnahmslos spießige, hochnäsige Zicken, die meinten, sie seien was besseres, weil sie Lippglos auftrugen und sich was auf ihre beschissenen Dauerwellen und auf ihren ekelhaften Discoglitzer einbildeten. Wenn sie ahnen würden, wie häßlich sie damit aussähen. Eine Frau wie Betty hatte Doris bis dahin wohl noch nicht kennengelernt. Entsprechend angetan war sie, entsprechend wäre sie mit allem einverstanden gewesen. Ich sah mit Sorge voraus, dass wir Betty so schnell nicht mehr loswerden und mich peinliche Situationen erwarten würden, schob die Sorge aber souverän (!) beiseite und verließ mich auf gute Ausreden. Jetzt zählte nur eins, so schnell wie möglich weg hier. Ich lockte Doris unter einem Vorwand nach draussen. Die frische Luft tat gut, aber ich täuschte Müdigkeit vor und wollte unbedingt den letzten Bus mitnehmen. Frühzeitig und ohne Abschied von Betty sind wir direkt los zur Haltestelle in der Nähe. Doris schwärmte von Betty, was mich nervte. Ich schwieg und Doris verstummte.

Für Doris wurde mein Verhalten unberechenbar. Nicht umsonst nannte sie mich manchmal Wirrwarr, in einer Weise, die zeigte, dass sie nicht ahnte, wie weh ihr der Wirrwarr noch tun würde. Sie litt zwar darunter, dass ich nicht verläßlich war, aber ihr Glaube an uns schien unerschütterlich. So richtig in Fahrt aber kam meine Verwirrung erst, als ich mit den beiden Frauen Richtung Womitmens fuhr. Eine Ausrede war mir nicht mehr eingefallen und ich bekam die Quittung für meine Feigheit. Ich war scharf auf Betty und gleichzeitig abgestossen, weil sie mir anbiedernd vorkam. Dabei war sie nur nett. Sie mochte Doris, das spürte ich. Ich weiss nicht, wie es zu dem Thema kam, Doris und Betty sprachen über Dreiecksbeziehungen. Ein Wort, bei dem mir uneingestanden übel wurde. Aber die locker plaudernden Frauen waren offen, geradezu begeistert dafür. Wichtig sei nur, das Vertrauen zueinander nicht zu verlieren, sagte Doris und Betty nickte wissend. Ihre Einigkeit reizte mich zum Widerspruch. Als ob das so einfach wäre! Vertrauen, als ob das vom Himmel fiele. Aber warum denn nicht, insistierte die eine, während die andere betonte, dass sich alle drei nur gut verstehen müssten. Das sei das Wichtigsten, sonst ginge das natürlich nicht. Ich schwieg, ich bildete mir ein, sie wären in einer Verhandlung darüber, wie sie mich in Zukunft aufteilen würden. Ich wollte nur raus aus dem Auto. Doris fand an diesem Abend keinen Zugang mehr zu mir. Ich erfand Widrigkeiten und nörgelte an der Band herum, ich fand das Bier zu warm und war sauer auf beide. Ich gestand mir nicht ein, dass ich Betty wollte und Doris nicht, dass ich Dreiecks- oder Vierecksbeziehung verabscheute, mir aber den heiligen Anspruch, das können zu müssen, abzuringen versuchte. Erfolglos.

Anspruch, Souveränität und Offenheit, das war meine persönliche Dreifaltigkeit, mit der ich mich marterte. Bockig, trotzig und steif wie ich manchmal war, wollte ich nicht einsehen, dass die Ansprüche an mich selbst meine Möglichkeiten überstiegen. Damit mir solcherart Erkenntnisse nicht zu nahe kamen, kiffte ich nach wie vor sehr viel, nicht selten bis in die Nacht und nahe dem Nirwana.

Ich weiss nicht, ob es Zufall war oder ob ich das nur falsch erinnere: In dieser Zeit der Drogen wurden die Abstände zwischen dunklen Gefühlslagen und federleichtem Tatendrang geringer und das Gefälle größer. Bewusst war mir das nicht. Noch stand ich zwischen zwei Frauen und ich hatte keine Ahnung, wie ich aus dem Dilemma herauskommen sollte. Zu allem Überfluss rief ich Betty an. Sie hatte mich darum gebeten, ich spürte, dass ihr das wichtig war und meldete mich bereits am nächsten Tag. Sie kam am selben Abend zu mir. Wir redeten nicht viel über das vergangene. Nach einem kurzen Austausch von Belanglosigkeiten auf dem Weg in die Küche, standen wir uns gegenüber. Betty schaute kurz zum Boden und sagte, dass sie Doris gerne habe und dass meine Beziehung zu ihr in Ordnung sei. Ich wollte das nicht hören, wollte dem Wort Beziehung widersprechen, blieb stumm. Kurzes Schweigen dann. Sie habe mich vermisst und nach kurzem Zögern fügte Betty hinzu, sie wolle mich nicht ganz verlieren. Ich stand da, mein Unterleib war kurz vor der Explosion. Sie kam auf mich zu und küsste mich. Wir vögelten kurz, heftig, gierig. Danach fühlte ich mich leer und erleichtert. Betty wollte gerne bei mir bleiben. Mir passte das zuerst nicht, weil ich noch in Ruhe kiffen und mich danach in ein Cassettenmix namens Radio Schauma vertiefen wollte. Aber ich dachte an den nächsten Morgen und nickte nur. Betty war schon eingeschlafen, als ich wieder aufstand, und ich war froh darüber. In der Küche gab ich mir am Tisch ein Purpfeife, las noch einmal eine Story von mir, wie ich meine Erzählungen nannte, gab mich dann dem Wabern und Versiegen der Gedanken hin und kroch zu Betty unter die Decke.

In den Folgewochen wollte ich Doris alles erzählen. Das zog ich hin. Ich schrieb ihr einen Brief, in dem ich gestand, dass ich mich nur zu Betty hingezogen fühlte. Ich schickte ihn nicht ab. In der Zwischenzeit nervte mich Betty in ihrer Art, alles um sich herum zu vergessen, wenn sich irgendein Genuss auftat. Wenn es eine Süssigkeit oder ein belegtes Brotstück war, legte sie es mit Zeigefinger und Daumen im Mundraum ab, machte zehnmal Hm und betonte oft, wie lecker das sei, als müsse sie die Welt damit bekehren. Danach leckte sie sich mit dem gleichen Genuss die Finger ab. Ich konnte das kaum ertragen, vor allem wenn ich gerade über die Schlechtigkeit der Welt klagte. Doris sah ich jetzt seltener, ihre Briefe wurden häufiger und dringlicher, aber ich überflog sie nur oder las sie gar nicht. Ich konnte ihre Verzweiflung nicht ertragen. Oder nahm ich sie nicht wahr?

Insgesamt ein knappes Jahr versuchten Betty und ich uns an die freie Liebe, was zu den geschilderten Verletzungen führte, über die wir auch in den Jahren, die kommen sollten, nie sprachen. Immer war da diese zwingende Lust in der Mitte meines Körpers, die mich jede Verwerfung vergessen ließ. Und Betty erging es wohl nicht anders. Rechtzeitig vor einer endgültigen Trennung beschlossen wir jedenfalls die Monogamie und fuhren kurze Zeit später in den ersten gemeinsamen Urlaub. Zwei Wochen zelten; nur an einem Tag nicht. Das war ein Tag, der mein Fühlen und Denken auf eine noch höhere und bedrohliche Ebene der Wirrnis beförderte. Der Anfang des Urlaubs schien wie gemacht dafür.

Mein letzter Urlaub war eine Kinderverschickung in die Sommerferien gewesen. Kinderreiche Familien aus Problemsiedlungen durften ihre frühpubertierende Brut für drei Wochen und fünfundzwanzig Mark nach Österreich verschieben. Die Auszeit mit Betty aber fing längst nicht so gut an wie mein Kindertrip ins bergenreiche Zillertal. Bereits die Überfahrt über den Ärmelkanal fand ich zum Kotzen. Nur das Totstellen auf einer Bank im Schiff linderte Schwindel und Übelkeit. Als ich Brighton sah, dachte ich Kaff, Kaff, Kaff – überall Touristen. Breit und behäbig urlaubten sie im Selbstverständnis ihres verfetteten Glücks und suchten zwischen XXL-Tüten und Plastikflaschen, zwischen Beachbummel und Tourifraß das Glück der Erholung. Das reizte mich zu zahlreichen Tiraden über den Imperialismus, über die Kriege des Westens und seine Opfer, die weit weg von uns krepierten, während wir uns mit Pershings auf das nächste und letzte Grauen vorbereiteten. Mißmutig und verächtlich warf ich Betty die Worte hinterher, während sie sich um alles kümmerte, das unter meiner Würde lag.

Neben der vermeintlichen Gleichgültigkeit und Heuchelei meiner Mitmenschen machten mir auch die Pflichten und Zumutungen des Urlaubs zu schaffen. Betty wurde auf eine neue Weise anmassend. Sie verlangte von mir, dass ich einkaufen ginge. Ich, mit meinen dreikommafünf Worten Englisch. Im Hinterstübchen war mir das nothochpeinlich. Als mir nichts mehr einfiel auf ihr Drängen, ausser ein freundliches Leckmich oder ein träges Kein Bock, kehrte ich ihr den Rücken zu und schwieg die wechselnden Landschaften an. Aber Rücken machte Betty wütend, so hatte ich sie noch nicht erlebt. Einmal sagte sie: Kindskopf, wie ein Pascha!

Pascha war ein Wort, das mich verläßlich reizte und das genauso verläßlich einen Monolog über ihre verlogene Spießigkeit provozierte. Blitzschnell wie ich war im Urteilen, transferierte ich ihre von Macht, Medien und Konsum beherrschten Verhaltensweisen in die großen politischen Zusammenhänge, was sogleich zur moralischen Schuld der Gleichgültigen und Verantwortungslosen führte, die nur und nochmals nur und immer nur an sich dachten! Aber nicht mein Räsonieren, Schimpfen und Täuschen trieb Betty zum Einkaufen, sondern der Hunger. Hunger war ein Zustand, den sie so gut wie gar nicht ertragen konnte, schon bei nahendem Appetit wurde sie nervös. Ich wusste das.

Im Verlauf des Urlaubs fand ich reichlich Stoff für kindisches Gezänk, beleidigtes Schweigen und plumpe Kommentare. Ein ironisches Gesicht war Bettys Standardantwort. Teilte ich ihr von meiner hohen Warte Abwegigkeiten mit, konterte sie mit ironischem Auflachen. In den Jahren unseres Zusammenseins verdichtete Betty ihren Standpunkt mit dem gekonnt knapp gehaltenen Schlusswort Kotzbrocken, vorgetragen mit mindestens drei Ausrufezeichen.

So fuhren wir. Durch ein England in skrupelloser Thatcherhand. Von Brighton direkt nach London. Schon wieder Touri-Trubel und nicht zu knapp. In einem dieser bescheuerten Doppeldeckerbusse wurde mir schlecht. Danach nörgelte ich so ausdauernd, dass auch Betty vorzeitig und ungewohnt schnell zum Campingplatz zurück wollte. Kein Wort sprachen wir mehr, bis zum nächsten Tag.

Danach kam Wales als wohltuender Abstecher. Nichts als Landschaft, viel Sonne und eine Stille, die mir neu war. Weiter ging es Richtung Norden. Dann, als wir nah der schottischen Grenze waren, passierte es. Betty fuhr und ich war still. Ich hatte nach Abbau des Zeltes keine Lust zu fahren, was mich wunderte und zugleich erleichterte, hatte ich doch keinen Führerschein. Was dann geschah, beginnt mit einem Bild, das wie eingebrannt ist in meinem Hirn: In der Ferne sah ich ein schmutziges Kraftwerk mit mehreren Kühltürmen und Schornsteinen, aus denen dicker grauer Rauch brach, der mich zu vergiften drohte. Vor jeder Gegenwehr fühlte sich mein Körper augenblicklich an, als würde er in ein Vakuum gezogen. In meinem Kopf der monströse Gedanke und nur der: Ich sterbe, ich sterbe jetzt!

Betty sah, dass ich zitterte. Sie hielt kurz an, fragte, ob ich etwas trinken wolle. Nein, hauchte ich und war froh, dass sie nicht fragte, was sei, ich hätte es nicht sagen können. Ob sie weiterfahren könne? Ich nickte und Betty startete den Motor. Wir nehmen heute ein Hotel, beschloss sie. Der Gedanke an ein Hotel beruhigte mich, ein Bett, ein Raum, vier Wände. Und noch mehr beruhigte mich, dass wir uns von dem Kraftwerk entfernten.

Am nächsten Tag ging es mir besser, aber ich fürchtete mich vor einem weiteren Anfall und achtete angespannt auf meinen Körper. Ein paar streitlose Tage zwischen rauer Wiesen- und Steinlandschaft mit einer plötzlich auftauchenden Bucht, in die langsam die Strömungen zweier Meere bis zum Sandstrand hineindrängten, lenkten mich ab. Im naheliegenden Dorf begegneten wir Menschen, an denen ich nichts auszusetzen hatte. Im Gegenteil, ihr verhaltenes Interesse, ihre Einfachheit, ihre gesamte Art gefiel mir. Ich brachte es sogar fertig, ganz allein den kleinen Pub zu betreten, um einen halbtransparenten Kanister mit Bier auffüllen zu lassen. Ohne Schamschaden und mit vollem Kanister kam ich zurück. Im Zelt feuerten wir mit dem süffigen Bier unsere eh schon kaum auszuhaltende Geilheit an, die verläßlich auch heftigen Streit resettete.

Einige Monate später teilten wir uns bereits eine Wohnung und Betty meldete beharrlich einen ganz persönlichen Kinderwunsch an. Sie ginge schließlich auf die Zweiunddreißig zu. Ich nahm sie zuerst nicht ernst, blieb wortkarg im Vagen, spielte auf Zeit. Betty hielt das schlecht aus. Sie wurde zusehends nervöser, während ich mich zunehmend bedrängt fühlte. An einem der dunklen Tage fiel ich in eine Kraftlosigkeit, die mit dem Aufwachen noch erträglich war, mich am Abend aber mit einer Wucht heimsuchte, auf die ich nicht gefasst war. Ich saß im Sessel, wie in Bernstein gegossen, zu keiner Bewegung fähig, nicht mehr Herr meines Körpers, meines Willens. Den Arm heben, einfach nur heben? Das blieb ein nutzloser Gedanke. Von weit her hörte ich Betty, obwohl sie in meiner Nähe war. Ich hörte ihre Bitten, aber es waren für mich nur Worte ohne Sinn. Ich sah, wie sie verzweifelt von einem Zimmer zum anderen ging. Ungewissheit quälte sie. Ich war ihr vollkommen entglitten. Sie flehte und schrie und ich sass tot da. Endlich ging sie ins Bett und ich kroch in der Nacht zum Zweisitzer in meinem Zimmer.

In den Monaten darauf ließ mich ein Bedrohungsgefühl nicht mehr los, und in den Nächten ertrank ich in Adrenalin. Manchmal kam ein schleichendes Unbehagen mitten am Tag. Zuerst mit leichtem Druck auf der Brust, später mit einer beklemmenden Unkonzentriertheit, als wären die Gedanken in klebrigen Netzen gefangen. Mein Körper drohte, zu versagen. Ein Hauch würde reichen, dann wäre ich tot!

Unerwartet ging es mir besser, nachdem ich einige von Panik getriebene Tag-Albträume überlebt hatte. Die Nächte wurden ruhiger. Der Frühling half, die jungen Blätter an den Bäumen, der erste Amselgesang, wahrgenommen in einer bis dahin nicht erlebten Intensität. Bettys Arzt half, ein Anthroposoph mit Kassenzulassung. Baldrian-Dragees halfen, immer dann, wenn Kopf und Körper mit der Angst vor der Angst drohten. Drückte die Not, ging ich zum Arzt. Eines Tages schlug der mir eine Therapie vor. Zwei Absolventinnen der Universität würden in seinen Räumen Psychodrama anbieten. Ich traute mich nicht nach den Kosten zu fragen, war mit Arbeitslosenschämen beschäftigt. Der Arzt verwies gleichmütig darauf, dass die Therapie auch für weniger zahlungskräftige Patienten gedacht sei. Trotz der Zweifel, sagte ich zu. Ich konnte dem Arzt nichts abschlagen, wie er da vor mir sass, groß und schlank und mit einem gepflegten Vollbart, der ihm gut zu Gesicht stand. In seiner Stimme lag eine warme Sachlichkeit, die mir Vertrauen schenkte und Sicherheit gab.

Leidensdruck trug auch dazu bei, mich einer Gruppe von Gleichgestörten zu stellen, mein Unterstübchen war sich längst im Klaren darüber. Wenn ich mich nicht gerade in Schwermut jedem Leben verweigerte, feierte ich wie ein Ping-Pong-Ball mein großartiges Leben: Großartig vor die nächste Wand fuhr ich es, großartig verfahren in den Liebesversuchen mit Betty war es. Betty, die ein Kind von mir wollte und die mein Leidensschwimmen mit Schnappatmung beantwortete, die mein Schweigen falsch deutete und allein auf sich bezog, so wie ich immer alles auf mich bezog. Aber immerhin, kurz bevor ich mich zu Betty bekannte und mich Doris, ohne ein klärendes Wort von mir, endlich aufgab, hörte ich mit dem Kiffen auf, schmiss sogar den letzten Rest in die Toilette und schwor mir, erst dann wieder einen Zug zu tun, wenn ich frei und ohne Gier einen Joint oder eine Wasserpfeife rauchen konnte. Das würde lange dauern, da war ich mir sicher.

Mit den Entscheidungen für Betty und gegen das Kiffen, fing ich an zu ahnen, dass jeder Mensch seine ganze eigene Wirklichkeitsbrille trägt. Meine Wirklichkeit war der Versuch, die Zerrissenheit zu deuten, meine Widersprüche anzuerkennen, die Herkunft der Angst zu durchschauen, die doch eine Ursache haben müsse. Manchmal fühlte ich eine Vagheit im Kopf, die mich jeden Augenblick zu der Wahrheit führen würde, als läge sie bereits auf der Zunge und müsse nur ausgesprochen werden. Schnell wie ein Geruch, der bereits verschwunden ist, bevor das Hirn ein Wort dafür gefunden, glitt die Wahrheit an mir vorbei. Es gab keine erlösenden Worte, nur ein vorsprachliches Ahnen. Aber an die Worte, an die Kraft der Worte glaubte ich immer.

Im Wartezimmer meines Arztes entdeckte ich die Psychologie Heute, die mir Hoffnung auf leidenslindernde Erkenntnisse machte. Als ich die Idee des Unbewussten begriff, schneller als ich mir zugetraut hätte, suchte ich eine verdrängte Ursache für die nächtliche Panik, eine Erklärung für diesen hartnäckigen Gedankentwist, nämlich auf dem Holzweg zu sein, auf der Stelle zu treten und niemals wissen zu werden, was ich wirklich will. Die Bergung einer Ursache sollte meine Rettung sein und ich begann mit Nachforschungen in meiner Familie, und ich kam nur bis zur Mutter.

Ich überrasche sie mit einem Besuch. Ich bemerke, dass ihr der nicht passt, aber sie wagt nicht, mich abzuweisen. Abgearbeitet schaut sie mich an, als ahne sie etwas. Wir setzen uns und ohne Zögern verlange ich, dass sie mir sofort erzählen solle, was sie mir als ganz kleines Kind angetan habe, sonst wäre sie gestorben für mich. Mit dem ewigen Kittel am Körper sitzt sie auf dem angestammten Küchenstuhl und schaut beschämt auf ihren Schoß. Nichts ist mehr zu sehen von ihrer verzweifelten Wut, mit der sie ihre fünf Kinder anschrie, ohrfeigte, in dunkle Kammern sperrte oder durch die Zimmer jagte. Dann bringt sie mit leiser Stimme ein paar Sätze heraus, die alles sagen, was zu wissen wichtig ist.

Sie habe es doch auch schwer gehabt. Sie sei in Tschechien auf Landverschickung gewesen, als der Krieg war. Vergewaltigt mit neun Jahren. Als sie zurück kam nach Hause, habe ihre Mutter so getan, als ob sie nicht ihre Tochter sei. Als wäre sie nie zurückgekommen.

Sie senkt den Kopf, drückt das Papiertaschentuch zusammen, das sie umklammert, als wäre es ihr ein Halt. Als läge in diesem Stück Zellstoff ihre ganze einsame Traurigkeit, als sei der Schmerz darin eingesogen wie die Rotze nach den Tränen, fest zugehalten, damit nichts davon ans Tageslicht kommt.

Wir schweigen. Dann stehe ich auf, sage, dass ich gehe und gehe ohne Trost. Hier ist nichts zu holen. Ich bin allein verantwortlich für mein Leid, dafür, was ich daraus machen werde oder nicht, und das steht auch nicht in den Sternen.

An diesem Tag sah ich wahrhaftig von mir ab und begriff das Leid der Mutter, so dass mein Leid gelindert schien. Und kaum versah ich mich, entdeckte ich meinen Humor wieder. Neurosen hassen Humor. Neurotisches Leid sieht alt aus, wenn Selbstironie es vom hohen Sockel herunterholt und erdet. Humor ist DIY-Therapie mit der wirksamsten Intervention, die zwischen Himmel und Hölle erfunden wurde. Es dauerte noch Jahre, bis mein Humortalent die lauernden Triebe des Selbstmitleids und der moralischen Empörung zupfen konnte, ohne Gift und Bunsenbrenner. Damals hatte ich wenig Erfahrung mit Selbstgefühl, ein Begriff, den ich dreißig Jahre später bei Ernst Weiß als Vermeidungswort für die zu Tode optimierte Selbstliebe entdeckte. Damals wusste ich nicht, dass ich die Seelenwege aus dem Schmerz heraus und hin zur nie eingestandenen Sehnsucht, nur im Vergehen der Jahre finden konnte. Damals war meine fantasiebegabte Empfindsamkeit zu sehr verletzt, um ein wenig Licht in mein Fühlen und Wollen bringen zu können. Aber eine Therapie stand an. Und ich wollte sie.

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