Ob man dann schon tot ist

Am Fensterrahmen knibbelte Rolf Lack vom schartigen Holz und pulte losen Kitt heraus, den er gleich wieder einsetzte. Dann schaute er sich um und lauschte, als wären gleich die gewohnten Stimmen wieder da. Aber wie alles, was hier einmal wohnte, waren auch sie verschwunden. Das Doppelstockbett aus Eisen, in dem er mit zwei seiner Geschwister schlief. Der rote Schrank mit den klappernden Türen. Die dunkelgrüne Pflanze, die immer nur störte.

Das Fenster. Kleine und große Tropfen hingen daran, als wüssten sie nicht weiter. Einige liefen ganz von selbst und schufen eine Bahn auf dem vom Wasser getrübten Glas. Der eine da, der wird jetzt schneller. Springt er zu den Steinen? Nein, er zerfällt am furchigen Holz in Millionen Tropfen. – Wann werden sie ihn abholen? 

Erneut fing es an zu regnen und der Wind fegte Schwälle von Wasser an die Scheibe. Er ging weg vom Fenster, zögerlich, als dürfe er sein Kinderzimmer nicht verlassen. Er schaute zur halboffenen Tür, die zum Küchenraum führte. Vielleicht wartete da der Hund der Nachbarin von unten, ein böser Collie, der ihn einmal biss, als wollte er sein Schienbein fressen. Aber er weinte nicht. Er war tapfer. Der Arzt sagte das auch. Aber die Mutter war ganz ruhig. Sie saß nur neben ihm, still die ganze Zeit.    

Nun ging er doch mit einem Ruck und trat auf die Schwelle. Der Raum war dunkler, er hatte keine Fenster, nur weitere Türen. Eine davon führte zum Hausflur, zur Treppe, die bei jedem Schritt knarzte und eng und steil nach unten ging. Es war nicht lange her, da flog er sie fast hinab – auf der Flucht vor den Schlägen der Mutter. Unten knallte er gegen die Holztür mit dem blinden, runden Fenster. Mit beiden Händen zog er die Tür auf und rutschte beinahe weg. Die Mutter blieb oben stehen und drohte müde mit dem Vater. Dann schrie er und schwor Rache. Bevor er auf den Bürgersteig sprang, hörte er noch die leiser gewordene Stimme der Mutter. Wie stark er da war, und doch verlor sich der Schwung seiner Flucht, als er kurz darauf die Wiese erreichte und stehen blieb. Er war ja noch in Strümpfen. 

Wurde es schon dunkler? Haben sie ihn vergessen? Er ging durch eine weitere Tür in das Wohnzimmer. Auch so leer. Aber das große Fenster war geblieben. Mit Blick auf die zauselige Wiese, auf der in der Mitte tatsächlich dieser tote Baum stand.
Karg, mit spitzen Ästen wie Hexenfinger. Alles umzingelt von befahrenen Straßen, die Autos dampften, sie rauschten auch. Jetzt polterte ein großer Lastwagen über das Kopfsteinpflaster. Er spürte das Vibrieren unter seinen Füßen, aber es klirrten keine Gläser mehr im Schrank. Was war denn das dazwischen? Ein Bellen? Wie gebannt stand er und drehte den Kopf zum Fenster. Da war nichts! Und doch hörte er es, wie ein Klagen, immerzu und immerfort. Jetzt kribbelte es über seinen Rücken. Er zog die Schultern nach oben und ließ sie wieder fallen. Er rieb sich mit der Hand einen Arm und schaute nach unten. Der Boden war sauber wie immer. Die stumpfen Dielen glänzten, als wären sie etwas Besseres. Er hob ein Bein und schaute unter den Schuh. Auch der andere war sauber. Plötzlich fiel ihm an der Wand eine kleine schwarze Zahl auf. Ein Kalender hing noch da. Ohne Zögern ging er nah heran und hob die Fersen und den Kopf. Riesig war die Zahl auf einmal. Er ging einen Schritt zurück und fuhr mit dem Zeigefinger zuerst entlang der Zwei und dann sogleich entlang der Fünf, so langsam, als würde er sie malen. Er wiederholte das, nur schneller, immer schneller. Die Zahlen waren jetzt eine Rennbahn mit scharfen Kurven. Als er die quietschenden Reifen im leeren Raum hörte, ließ er den Arm fallen. 

Wann kommen sie denn endlich? Wenn er doch schon groß wäre. Zwanzig Jahre! Dann könnte er immer einfach gehen. In neun Jahren wäre das. So lange noch! Und mit Dreißig dann? Dann wäre er richtig groß, so groß wie der Onkel, der ihn dann nicht mehr so feste kitzeln oder zur Pommesbude schicken würde. Wieder ging er ganz nah an den Kalender, las den Tag, den Monat und das Jahr. Und vierzig Jahre dann? Er murmelte Zahlen. Zweitausendfünf, rief er plötzlich, sodass es hallte. Gebannt von der großen 25 überkam ihn ein Flirren, als sei er in einem unendlichen Raum mit einem kleinen Punkt darin, der nicht zu erreichen war und zugleich so nahe schien. Sechzig! Ob man dann schon tot ist? 

***

Er lag im Bett. Wie ein Stein mit Extremitäten. Er stöhnte und brachte sich nur mit Mühe auf die Seite. Dann war auch die Gänsehaut wieder da. Immer wenn im Hirn rot-schwarzes Chaos blitzte. Aber Knöllchen gab’s keine dafür. Der freche Spruch zuckte im Mundwinkel und lockerte etwas in der Brust. Plötzlich hörte er Lärm da draußen, nicht schon wieder dieses dumme Hämmern! Das machte seine schöne Angst kaputt. 

Er saß noch eine Weile auf der Bettkante. Wenn nichts Neues käme, wäre es in zwei Monaten vorbei. Er rechnete das, was sicher war, im Kopf zusammen. Selbst das war nicht sicher. Und wer weiß, was in zwei Monaten war. Immer dieses Fürchten auf Vorrat! Trotzig hob er den Fuß, aber es wurde nur ein halbes Stampfen. Er stellte sich vor, dass das alte Parkett darüber lachte. Wieder hoben sich seine Mundwinkel, doch das kleine Lachen verlor sich in einem Stöhnen, das noch nachklang, als er mit einem Ruck aufstand. Etwas drückte auf seinen Schultern und fiel dann in die Beine hinab. Aber Gehen ging doch.

Im Badezimmer suchte Rolf nach der Ringelblumensalbe, einer kleinen Tube aus der Apotheke. Es kribbelte an den Lippen. Nicht schon wieder Herpes. Er zog an der Schublade des kleinen Schranks, der in dem Schlauch gerade noch einen Platz fand. Sie klemmte schon wieder. Er zog ungeduldig, dass sie ihm fast entgegenkam. Eine vorlaute Zahnbürste sprang heraus und fiel auf den Boden. Er bückte sich, griff danach, erhob sich, doch sie fiel erneut herunter. Meine Fresse, hörte er hart in seinem Kopf. Und während er das störrische Ding in die Schublade legte und die kleine Tube herauskramte, sagte er laut: Meine Fresse. Meine Fresse. Meine Fresse! Er variierte die Betonung, zuletzt dehnte er das Meine, während er schon lachte. 

Selbstironie, die schnellste Intervention, die er kannte. Was nützten auch viele Worte? Gegen uralte Momente der Beschämung, die längst nicht mehr auszumachen an Erinnerungen. Oder diese seltsame Schwäche in den Gliedern, als dürfe er keinen Schritt mehr tun, ohne anderen zu schaden. Meine Fresse, darauf schnell einen Kaffee. Er ging in die Küche, schob ungeduldig das Geschirr von gestern beiseite und wartete auf die Bereitschaft der kleinen Maschine. Als fiele es ihm jetzt erst ein, öffnete er eine rote, reich verzierte Dose, füllte den Siebträger mit Kaffeepulver und drehte ihn ein. Er freute sich auf einen starken Gepressten, der jetzt ratternd aus der Maschine lief. Den Siebträger legte er danach in den Spülstein. Er hob das Glas und nickte zufrieden. Die Crema war schön hoch und oben mit braunen Schattierungen. Dann ging er an den kleinen Tisch und setzte sich. Vorsichtig nahm er einen kleinen Schluck. Nicht zu heiß und nicht zu kalt, genau richtig für den kleinen Trost, den er zu brauchen schien. Mit dem zweiten Schluck schaute er aus dem Fenster, das recht groß war für die kleine Küche. Er brauchte solche Fenster. Weiß nur der Teufel, woher das kam. 

Draußen gab der Herbst mit seinen Farben an. Schönes Licht, ohne Zweifel. Die schimmernden Blätter der Birken und Buchen waren still, als schliefen sie noch. Die mächtige Platane warf jetzt einige Blätter ab, sie segelten ohne Eile ins feuchte Gras. Buche und Birke machten das jetzt auch. Wie sie loslassen können. Das Trio des Trostes. Warum denn? Weil sie schön sind? – Weil sie einfach da sind. 

Das Gezweig schaute fast überheblich auf die Dachfirste der Reihenhäuser, in denen ein Menschengemisch wohnte, das erstaunlich friedlich war. Einigen Eichelhähern kam das gerade recht, sie versteckten Vorräte oder taten so, um die anderen zu täuschen. Die Dohlen waren auch wieder da, sie kamen wohl nur im Herbst. Jetzt wackelten sie wie eine Krähenhorde über das vermooste Schrägdach und suchten unter den braunen Blättern nach den Resten des Sommers. Wie schnell das Jahr wieder verging. – Zeit. Endlich und doch ewig. Er hob sein Glas in Richtung des Fensters und murmelte Prost, bevor er den nächsten Schluck nahm. Die sanfte Bitterkeit entlockte ihm ein Hm, das warm aus der Kehle kam, als hätte der Kaffee dort einen Schalter gefunden – oder besser, einen Trigger, ha ha.

Das Kind von nebenan, das fehlte ihm noch. Der kleine Junge, der manchmal gekitzelt wurde, dass sein Lachen zu ersticken drohte. Jetzt schrie er einen Kanon aus aufheulender Sirene und gelber Quietscheente. Dann ging sein Weinen über in ein schluckendes Gackern, während er immer wieder stehen blieb. Der Vater, ein schlaksiger Kerl mit volltätowierten Armen und ewiger Baseballkappe, schob ihn mit seinen Beinen weiter und hörte der Mutter zu, die einen schlaffen, eisgrauen Mantel trug. Der Vater nickte nur und schaute auf sein Smartphone, während er den Jungen mit den Knien ans Auto drängte. Von hier oben war das kleine Kind jetzt kaum noch zu hören. Für die unten schien es nicht zu existieren, aber die Mutter schob es nun sachte ins Auto. 

Rolf nahm jetzt den letzten Schluck und vermisste den Genuss des ersten. Bedauerlich. Wie soll er sich so aufraffen, gleich einen neuen zu machen? Ach, er bleibt einfach sitzen und suhlt sich in seiner Lustlosigkeit. Aber darunter lag noch etwas anderes, etwas aus der letzten Nacht. Er atmete tief ein, blähte dann die Wangen und ließ langsam die Luft entweichen. Das Foto an der Wand gegenüber. Sein Sohn, da war er acht. Feinfühlig lächelte er, Liebe in den Augen. Und dann schien alles zu schweben, und darin lag ein Trost ohne Trost. Wie viele schöne Tage sie hatten, wenn Ben am Wochenende bei ihm war. Mit Papa ging er gerne spazieren. Manchmal schlichen sie querfeldein durch einen alten Buchenpark. Häufig suchten sie auch Vögel und schrieben die Namen auf. Dreiundzwanzig verschiedene erkannten sie einmal. Den Zettel hatte er noch irgendwo. – Unwiderruflich vorbei. 

Wenn er noch zehn Jahre hätte, wäre sein Junge fünfundzwanzig. Hätte er noch zwanzig Jahre, wäre Ben fünfunddreißig (wie gut er rechnen kann). – Noch zwanzig Jahre leben. Irgendwie kaum vorstellbar. Vielleicht weil es gerade so dumpf drohte, als wäre gleich schon alles vorbei. Das kam noch aus der Nacht. Er sah und spürte deutlich, als wäre ein Hologramm in seinem Hirn, die 25 auf dem Kalender und seine Hand, die über die Zahlen fuhr. Er war angekommen, und die Zeit summte in den Ohren. Wie schön es leuchtet da draußen.

© Oktober 2025 by Wandelkern   Lesermail