Schmerz
Die Welt da draußen, die Welt da drinnen, die im Oberstübchen, die in der schweren Brust und im gärenden Bauch! Was für schwindelerregende Fallhöhen tun sich auf im Laufe eines Lebens! Ich komme mir jetzt vor mit meinem schweren Nachtkopf, als wäre ich einer Selbsttäuschung entkommen, ohne das wirklich wahrhaben zu wollen. Ich wähnte mich die letzten Jahre in Sicherheit, endlich gefestigt, trotz Stimmungsschwankungen an manchen Tagen. Und heute bin ich aufgewacht als Häufchen Elend. Alle Sicherheit verpufft! Nun ist nur Scheitern wie eine höhnische Erwiderung auf meine Zuversicht. Auf das Scheitern ist Verlass.
Aus einem absurden Anlass tauchte ich in den letzten Wochen in meinen Erinnerungen ab, ohne die heimtückischen Gassen meiner wurzelarmen Existenz zu fürchten. Ich bin weit gekommen mit mir, redete ich mir ein. Was soll mir passieren, beruhigte ich mich. Ich kenne alle meine Dunkelheiten, behauptete ich. Endlich vorbei das Gefühl der Aussichtslosigkeit! Und wenn es wieder auftaucht, dem Nichts näher als je zuvor? Warum sollte es, sprach der gut gestimmte Mann. Soviel Optimismus ohne Zweifelei war nie.
Mit dem heutigen Aufwachen begriff ich, dass ich mir etwas vorgemacht habe. Zwischendurch tut es gut, sich selbst zu beruhigen mit Lebenslügen. Doch mir reicht es, wirklich. Ich bin heute morgen aufgewacht mit Dumpfheit im Kopf und einem Körper, schwer und unbeweglich wie ein Granitstein. Trotzdem stand ich auf, überwand mich, auf zwei Beinen zu stehen. Ich schlich in den Tag. Gegen das Gefühl der Sinnlosigkeit tat ich die Dinge, die ich immer tue, nur viel langsamer, nur zögernder, sehr müde, aber immer weiter. Jedes Vorhaben schien unmöglich, aber es war nicht unmöglich, es geschah. Und jedes Mal, wenn das Unmögliche geschah, und war es nur ein Wegräumen von Geschirr oder der Gang zum Schreibtisch, wurde ich ein Mikrogramm mutiger und das Chaos der Nacht entwich langsam aus winzigen Löchern wie Luft aus porösem Gummi, das unter dem Druck der Luft zu reissen drohe.
Schwindel jetzt. Warum? Ich sitze still. Ich horche in meinen Kopf hinein. Erinnerungen steigen auf, sie weigern sich, näher zu kommen, sie bleiben im Vagen, kapitulieren vor den Worten. Ich befürchte, zusammenzubrechen, wenn ich weiter horche und bohre in das Chaos meines Kopfes. Was bleibt mir ausser Schmerz? Ausser Traurigkeit, die sich versiert versteckt hinter allen möglichen Gedanken. Was passiert jetzt! Ein verschwommenes Bild tut sich auf, als wäre es aus meiner Jugend. Auf dem Weg zur Schule? Wie alt war ich? Irgendetwas quälte mich. Die Angst auf dem Schulweg? Aber meine Fragen bleiben leer, sie verscheuchen, was da vage zu kommen schien in mir. Das Bewusstsein fand den Zugang nicht. Bewusstsein ist für mich nur ein anderes Wort für Sprachbegabung, für Wörter und Sätze, die ins Schwarze treffen. Das wird heute nichts. Ich halte mich hart, ich bleibe stumpf, ich packe das verdammte Elend in eine Rakete von Elon Musk und schiesse es zum Mars. Mindestens! Vergebens. Ich schaffe es nicht einmal vom Stuhl fort. Trost, hilft der? Trost aus der Einsicht, nichts davon muss sein, nichts davon will ich erzwingen, alles braucht seine Zeit, auch wenn ich bald keine mehr habe. Vertraue dir, steht geschrieben. Ich vertraue mir. Selbst wenn die Seele ätzende, stinkende Pisse ausschwitzt, vertraue ich mir. Das ist meine Kunst. Wirklich jetzt. Auf Du sein mit der Ichangst, die jedes Vertrauen blockt. Ichangst. Ich lebte zeitweise gut mit mir, solange ich die Paradoxien meines Daseins mied. Flucht nach vorne war angesagt, wenn sich in der anderen Hälfte meines Selbst Schmerz und Hilflosigkeit rührten. Zur scheinheiligen Linderung tanzte sie mit Hülsen wie Bewusstsein, inneres Kind, Sich-Spüren und sonstigem Wiederbelebungsvokabular und griff ansonsten gern auf Selbstmitleid, leblose Dinge und süchtig machende Belohnungen zurück. Die Ichangst kennt jeden Trick, um die andere, die gute und so verkannte Hälfte des Ichs hinters Licht zu führen, selbst dann, wenn kein Licht in der Nähe ist (das muss man einmal gefühlt haben dieses Bild!). Hell und doch verleugnet war nur die Sucht nach allem, was Bestätigung, Trost und Anerkennung versprach. Und allzu oft standen Frauen an erster Stelle, das ist wahr, das kann ich nicht leugnen. Ich will es auch nicht leugnen, auch wenns im Nachhinein halb tragisch und halb komisch scheint. Nicht die Frauen suchte ich, sondern die Frau meines Lebens suchte ich. Und solange sie nicht in Aussicht stand und ganz nahe mit mir zusammen war, solange war jede Frau, die mein Interesse weckte, eine potentielle Frau fürs Leben. Das war kein Spaß.
Meine überforderte Mutter tat ihren Teil dazu bei, mir die erste Liebe zu einer Frau unmöglich zu machen. Sie schrie mich an und schlug mich. Meine resolute Oma dagegen, die Mutter meines Vaters, tröstete mich ein wenig, mein Halbopa tat seine stille Gutmütigkeit dazu. So stetig die Mutter meine Sehnsucht nach Geborgenheit und Anteilnahme übersah oder darauf trat, Frauen blieben wunderbare, Liebe verheissende Geschöpfe für mich. Ihre Anziehungskraft war Glück und Fluch zugleich. Verrückt machten mich schon früh wohle Formen von Po und Busen. Sie zogen mich an wie die Brust den Säugling. Verliebte Augen, verlangender Mund, weiches Haar strahlten auf mich ab, machten mich gefügig. Aber es sollte auch ein Geist im begehrten Körper wohnen, ein Geist, der meine Interessen und meinen Humor herausforderte, der mich zu beleben verstand.
Vor jedem Bewusstsein ihrer gesellschaftlichen Benachteiligung litt ich mit den Frauen mit. So abgedroschen sich dieser Satz anhören mag, für mich trifft er genau so zu. Mein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden stand früh auf ihrer Seite. Früh nahm ich mit scheuer und verzweifelter Abscheu die Frauenverachtung der Männer wahr. Nie werde ich die hilflose Wut vergessen, als ich einen brutalen Übergriff auf eine Frau miterleben musste, in dieser verrufenen Siedlung am Stadtrand. Dreizehn war ich oder vierzehn. Es war Abend, das Fenster offen. Ich war allein, was selten war. Sieben dumme Köpfe teilten sich ein großes und zwei kleine Zimmer. Ich hörte das harte Klatschen einer Hand in das Gesicht der Frau, die in der Siedlung berüchtigt war. Sie hatte große Fresse oft, konnte hetzen, was das Zeug hielt. Sie war nicht zimperlich, wenn es darum ging, mit fiesen Worten und brachialer Gewalt ihre Wut zu kühlen. Aber der Mann, der sie als Hure beschimpfte, als Dreckstück, war zu stark, war zu brutal für sie. Ich wusste sofort, wer er war. Ein kräftiger, drahtiger Kerl, der wenig sprach, der mir unberechenbar schien von Anfang an. Sie weinte und flehte. Ich wars nicht, ich schwör! Ihre Worte versoffen im Wimmern. Er schlug sie stumm zuerst, in Schüben, zwei, dreimal hintereinander. Ins Gesicht, auf den Kopf. Dabei hielt er sie wahrscheinlich fest am Arm und zerrte sie nach oben. Ich traute mich nicht ans Fenster. Ich bebte, ich zitterte. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich schrie, kurz und schrill. Schnauze! hörte ich unten, Wichser! Zu ihr: Lass dich nie mehr blicken, ich schlag dich tot. Dann verschwand er. Die Frau schluchzte noch eine Weile, tief und laut. Ich hörte sie sagen, das Schwein, das verdammte Schwein!
Meiner Mutter, die mich nicht wollte. Sie sah keine ersehnten Umarmungen mit zärtlichem Streicheln über mein Haar. Sie fand nicht das zustimmende Lächeln, den tröstenden Zuspruch, den Beistand in kindlicher Not. Sie gab nicht das ruhige Herz an meinem Ohr. Der Vater, der Vater nicht einmal ein Freund. Der Vater nur ein Abwesenheitsvogel, der im Gesangsverein feuchtfröhlich Lieder sang, sich in Kneipen im Automatenklang verlor, weit weg vom Hilfsarbeiterschuften. Hoch hinaus, wollte er. Das war vor seiner schnellen Ehe (ich war unterwegs). Hoch hinaus kam er nur mit dem Alkoholpegel. Er war Kriegskind und Flüchtlingskind dazu, Jahrgang 37, von Posen nach Norddeutschland geflüchtet, im letzten Winter vor Kriegsende. Auch seine Mutter, meine gute Oma, war unehelich zur Welt gekommen. Aus dem wolgadeutschen Raum wurde sie, glaube ich, über das Naziprogramm „Heim ins Reich” nach Posen verfrachtet. Meine Mutter, Jahrgang 34, früh Landverschickung in die Tschechei, nach dem Krieg daraus vertrieben: Weg von der Natur und dem Wohlbefinden dort trotz des Krieges. Zurück ins zerbombte Industriegebiet zur Mutter, die sie nicht mehr wollte. Ihre Schulzeit ein Opfer des Krieges. Lesen nur mit Mühe, schreiben nur in der Not.
Es war nicht mehr drin für uns Kinder. Drei Blagen kurz hintereinander, später noch zwei dazu. Den Laden zusammenhalten, trotz Geldsorgen, trotz der Umzüge, trotz der Verzweiflungen und Krankheiten, trotz der nie endenden Arbeit, trotz der sozialen Deklassierung, der Lohnpfändungen, der Schulden, die jeden Tag drückten. Mehr war nicht drin. Das war viel. Und doch viel zu wenig. Ich blieb allein mit Angst und Sehnsucht. Mir fiel nichts besseres ein, als mein Heil in den Frauen zu suchen: Weiches Herz an meinem Ohr, warme Hände in meinen Haaren, gemeinsame unwiderstehliche Lust. Sehnsucht nach Osmose und Symbiose.
Zwei längere Lieben habe ich gelebt, zwei Trennungen inklusive. So hilflos und verloren sie mich auch machten: Den Verlusten habe ich zu danken. Weil sie mich auf das Verleugnete wiesen, weil sie mich zum Denken trieben. Neben Hilfe suchte ich Wissen und verwandelte mich vom miserablen zum aufmerksamen Leser. Wissbegier und Begeisterung waren selbst im Elend nie ganz tot. Ich begriff Zusammenhänge, die mich pushten. Sie setzten Perspektiven frei, die meinen Geist durchströmten wie Blut die Haut. Ich begriff, dass die Anderen um mich herum auch kein Herz und eine Seele waren für sich selbst. Sie alle sind zerrissen, zweifeln, leiden, verweigern sich. Das teile ich mit mit ihnen. Eine Erkenntnis, die mein Elend erdete.
(°_° : Die ganze Scheisse in Dir is kein Privileg, wach auf!)
Ach, Straßenjunge, freches Grinsen bis über beide Backen. Danke für deinen robusten Humor, den hatte ich fast vergessen. Ich schrubbte ihn beharrlich frei mit Rotz und Wasser, den Humor. Dabei stieß ich auf Absurditäten in mir, die mich verführten, wirklich wahr. Fühlte mich lebendig und elend zugleich, wirklich wahr. Wie gepingt zwischen Schmerz und Ironie, zwischen Verachtung und Friedensgesprächen mit mir selbst, wirklich wahr. All das hob das Leid über das Leid hinaus und floss nach oben wie Wasser unter Druck aus einem bauchigen Kolben. Selbstmitleid und die Schar der Dramateufel verschwanden im Lachen über mich selbst. Aber das ist nur der erste Teil der Wahrheit. Der zweite: Im Verborgenen geschah sehr leise wunderliches, ein Strömen von Wärme, als ob Empfindsamkeit aufginge, ähnlich der, die ich mit auf die Welt gebracht hatte und die ich erst spät bei meinem Sohn wahrzunehmen verstand, als er fast erwachsen war. Meine Empfindsamkeit, die zuerst schüchtern und scheu und dann mehr und mehr Raum verlangte, obwohl noch ganz verschreckt vom Krieg in mir. Ich sah dann Menschen, keine Feinde. Ich suchte Verzeihen, nicht Schuld. Ich heulte mir die Nase voll, wenn ich an die Verletzungen dachte, die ich meinen Lieben beigebracht hatte. Manchmal sah ich Fremde als verletzte Menschen. Ich war meinen Kindern, die später kamen, nah wie nie und sah das Schöne um mich wachsen jeden Tag. Sie strömte und verschwand auch wieder, die Empfindsamkeit, die lange verleugnet war.
Und doch fehlte etwas. Etwas, das noch passieren sollte und sich ankündigte in Träumen, in erschreckenden Bildern, die aber zum Glück weit weg von ihrer alten Macht waren, Bilder, die mich lange Zeit fest im Griff hatten als Angst ohne Grenzen. Stattdessen Ahnungen und immer wieder Traurigkeit und Wehmut, die an manchen Tage wie eine dicke Decke auf mir lagen, ohne zu wärmen.
Was passierte? Es war ein Tag wie viele andere zuvor, er liegt noch gar nicht solange zurück. Es war die Nacht davor, die mit Träumen spurtete, aus denen ich benommen erwachte mitten in der Nacht. Ich stand auf und ging auf die Toilette, setzte mich und berührte meine Oberschenkel. Die Haut war hart und ruppig und zog am ganzen Körper, als wolle ich schrumpfen. Zugleich kam mir ein Bild aus dem Traum ins Bewusstsein. Da war ein Kopf im Dunklen über mir, der wie aus einer Vignette schaute. Mit diesem Bild, obwohl nichts furchterregendes zu sehen war, wurde es wirklich wild: Die Haut zog an mir als säße ich nackt im Eis, der Kopf pochte als sei er entzündend. Der Körper schob Panik und ich wollte das Gesicht schärfer sehen, forderte es heraus. Aber das Bild verschwand wieder und plötzlich tobte ein blaues und blutrotes Chaos in meinem Hirn wie in einem Stroboskobwirbel. Wieder im Bett, dachte ich, lass alles zu, niemals stirbst du heute, und wenn der Tod es will, dann holt er dich, das verhindert auch die Angst nicht. Zu gut kennst du die Fallen entfesselter Gedanken. Die jedenfalls haben heute keine Macht über dich. Sterben jetzt? Das schreckt dich nicht, ich sterbe nicht. Dann schlief ich wieder ein.
Mit dem Aufstehen am Morgen die schweren Glieder, vorlaute Unlust in meinen Tag zu gehen. Ich schob mich selber an, nahm mir vor, mir später Zeit für den schlechten Traum zu nehmen. Doch an diesem Tag machte Arbeiten keinen Sinn, das sah ich schnell ein. Zu stark wurde das Gefühl unentrinnbarer Verzweiflung, die sich in einem Gedanken ausdrückte. Wie in einen Drama mit langsamer Steigerung setzte sich mein zerrissenes Gemüt in Szene. Zuerst die Jammerei, dann der Kampf dagegen, dann das schlechte Gewissen und dazwischen immer wieder die Gedanken: Was ist los mit mir? Ich will das nicht mehr! Woher kommt der Scheiß? Das muss doch mal aufhören! Warum jetzt schon wieder? Ein Kampf dagegen, getarnt mit sinnlosen Fragen. Bis mir keine Fragen mehr blieben, nur ein drohendes Schwarz näher und näher über meinem Kopf. Dann plötzlich ein Gedanke zum schwarzen Empfinden, ein Hammerschlag im Kopf: Nie mehr wieder würde ich meine Kinder sehen! Nie mehr wieder! Ich musste mich setzen, mir wurde sehr flau, Schwindel erfasste mich. Wie gelähmt sass ich da und wartete. Das geht vorbei, echote es in meinem Kopf, das geht vorbei, das geht vorbei, das geht vorbei. Das wird es, bestimmt, das ist mir doch gewiss. Und sekundenschnell begriff ich allen Schmerz. Ein Nichts in mir, das quälte mich, ein unendlich leeres Loch. Nichts von dem ist darin, was in allen Menschen wachsen würde, hätten sorgende Menschen es gesät. Und doch war das Loch nicht leer, sondern ganz ausgefüllt mit Schmerz, der ich nun ganz und gar war, bewusst und nicht geleugnet, ohne jede Ichangst.
Was tat ich? Ich nahm das Loch in mir ganz an, ich schaute geradezu dreist hinein. Was dann kam, war meine ganz private Sintflut. Ein ganzes Meer lief aus. Es gab kein Halten. Zum Ende schluchzte ich laut und quiekend, so dass ich plötzlich lachen musste. Ich lachte. Ich lachte und mochte mich mit all dem Rotz.
© April 2024 by Wandelkern Lesermail