Sonnenburg II

Als wir 1972 an einem der letzten Wintertage des frühen Jahres Hals über Kopf in die Siedlung zogen, stand meine Mutter hochschwanger mit ihren vier Kindern in der leeren Küche und wusste nicht wohin. Der Umzugswagen war noch nicht da. Und der Vater auch nicht.

In der Siedlung selbst standen vier lange Blöcke aus rotem Backstein und Beton, aufgestellt in Reih und Glied, begrenzt durch Sträucher und  Maschendrahtzaun, umlauert von Bauernfeldern, einer Steinfabrik und geduckten Mietshäusern. Jeder der vier Blöcke hatte zwei offene Aufgänge, durch die an manchen Tagen der Wind pfiff, um gleich durch eine der drei Etagen das Weite zu suchen. Lange offene Gänge zogen an stumpfen Eisentüren vorbei, sicher mehr als zehn an der Zahl. Die Türen hatten Klappen mit Briefschlitzen und mechanische Schellen, die ein trockenes Rattern von sich gaben.

Vor dem Umzug malte meine Mutter uns die Siedlung schön und entzündete unsere so leicht entflammbare Neugier. Meine Enttäuschung hielt sich in Grenzen, als sich der versprochene Abenteuerspielplatz und die Kettcars als unauffindbar herausstellten, da gleich am ersten Tag Abenteuerlust in mir geweckt war. Ich stand auf der dritten Etage und schaute über die Landschaft, die mir an diesem kalten Winternachmittag ein Versprechen war. Dort hinten die Bahngleise mit der hohen grauen Brücke, dann die Schrebergärten, begrenzt von gepflügten braunen Feldern. Weiter hinten ein Teich mit winkendem Schilf. Unweit davon eine Fabrik mit Rohren und kleinen Schloten sowie Straßen und Wege, die sich in Ansammlungen von Häusern mit Gärten verliefen. In dieser Fremde lockte die Weite der Landschaft und ich war bereit, sie zu erforschen. Mein Bruder, ein Jahr jünger als ich, stand neben mir und brummte etwas in sich hinein. Er ließ mich einfach stehen.

Anderntags war die Unternehmungslust verflogen und ich bedrängte meine Mutter mit dem Wunsch, in die alte Schule zurückzukehren, als hätte ich etwas geahnt. Ich könne doch mit dem Bus zur Schule fahren! beharrte ich. Das geht nicht, schrie sie, als spürte sie meine Not, ohne sie ertragen zu können.

Schneller als mir lieb war, stand ich am ersten Tag schüchtern vor der Klasse und schämte mich, weil mir der Straßenname auf Anhieb nicht gelingen wollte. Auch stellte sich heraus, dass meine neuen Mitschüler im Stoff viel weiter waren als ich. So begannen die letzten Monate in der vierten Klasse mit einer neuen Angst. Und einmal, als alles vergessen schien, was ich schon gewusst hatte, kullerten all die aufgesparten Tränen aus mir heraus. Ungläubig nahm ich das betretene Schweigen wahr, wo ich doch Spott und Häme erwartete. Die Lehrerin tröstete mich mit optimistischen Worten und ein Schüler bot mir gleich seine Hilfe an. Das war mir neu.

In der Siedlung indes ließen die großen und kleinen Gruppen der Kinder keine Gelegenheit aus, meine Geschwister und mich herauszufordern. Meinen kleinsten Bruder, sechs Jahre alt, traf es zuerst. Eine Horde Dötze kam da plötzlich aufgeregt angerannt und alle riefen erwartungsvoll, mein Bruder würde verkloppt. Ich fand den Mut, mich schnell auf den Weg zu machen, ohne zu wissen, was auf mich zukam, bis ich drei Halbstarke mit bestickten Jeanskutten sah. Sie hielten meinen schreienden Bruder kopfüber an den Füßen und reichten ihn herum wie einen Thunfisch. Mit einem Sicherheitsabstand rief ich, dass sie ihn runterlassen sollen. Sie ignorierten mich. An so Kleine vergreifen! schrie ich. Einer sah mich spöttisch an, ein anderer drohte. Ich solle mich ja schnell vom Acker machen, sonst würde er mir so richtig die Fresse polieren. Dann verloren sie die Lust am Quälen und ließen grob von ihm ab. Verziehen sollte ich mich und zwar zügig, und nicht vergessen sollte ich, die Heulsuse gleich mitzunehmen. Unerwartet lachten sie, als sei das alles nur ein Scherz, während ich den kauernden Bruder auf die Beine stellte. In Begleitung der Kinderhorde, die etwas stiller geworden war, schob ich ihn schnell von den dreien weg, fürchtete ich doch ihre Unberechenbarkeit.

Mein Mut sprach sich herum und einer wollte es genauer wissen. Ein verächtlich dreinschauender Junge versperrte mir mit verschränkten Armen den Weg und behauptete, hier gäbe es für mich keinen Durchgang. Seine Kumpels um ihn herum bekräftigten das. Als ich weiterging, schubste er mich weg und ehe ich mich versah, war die Klopperei im Gange. Beide versuchten wir, den jeweils anderen in den Schwitzkasten zu bringen. Mit verzweifelter Wut warf ich ihn auf den Rücken und seine Schwester zerrte mich von ihm weg. Dann traf mich sein Fußballschuh, die Stollen ins Gesicht. Sein Tritt wirkte wie eine Grenzüberschreitung und markierte das plötzliche Ende der Unterhaltung. Ich hielt mir das Auge, das bereits blau anlief, während mein Gegner schnell aufstand und in Abwehrhaltung stehen blieb. So ließen wir voneinander ab. Die anfeuernde Meute verstummte und schnell war allen klar: Unentschieden! Und da der Ritter, wie er gerufen wurde, als einer der Stärkeren angesehen und etwas älter war als ich, hatten wir fortan Ruhe vor unverschämten Hänseleien und drohenden Schlägen. Mein blaues Auge galt als Zeuge meines Muts: Ohne zu heulen, hatte ich Schmerz und Schrecken weggesteckt und zugleich eine neue Angst entdeckt.

Bald entdeckte ich auch den Affenkäfig. Das war ein kleiner eingezäunter Aschenplatz mit Toren, wie man sie vom Handball kennt, nur dass sie aus Eisen und nicht aus Holz waren. Aus Eisen war auch der hohe Gitterzaun, an dem nicht selten Kinder hingen. Manche zerrten vor und zurück mit aller Kraft an dem gut vier Meter hohen Zaun, in der Hoffnung, dass der Kletterkonkurrent daneben es mit der Angst bekäme. Auf waghalsige Sprünge folgten blutige Schrammen und mancher Übermut führte zu einer Gehirnerschütterung oder einem gebrochenen Arm. 

Ständig wurde dort Fußball gespielt und dabei wurde ein ordentlicher Schuss in den Bauch genauso begrüßt wie der ins Tor. Sehr beliebt war Einmal berühren, das gerne zu zweit gespielt wurde, wenn nicht genügend Jungs für ein Fummelspiel auf dem Platz waren. Einmal berühren war Turbo-Fußball mit viel Rennerei. Die schlichte Hauptregel: Im Spielfeld durfte der Ball abwechselnd nur einmal berührt werden. Zuerst wurde dabei die Pocke von einem Spieler nah an seinem Tor abgelegt, um mit einem direkten Schuss das Tor des Gegners zu treffen. Dieser durfte den Ball abwehren, ohne die Hände oder Arme zu benutzen. Hatte der Erste zu feste und auch noch daneben geschossen, prallte der Ball vom Zaun ab und rollte mehr oder weniger schnell zurück, so dass der Zweite im Spurt hinterherlief, um möglichst nah am Tor seines Gegners einen Bombenschuss abzufeuern. Das Spiel bot zahlreiche Tricks der Geschicklichkeit und Täuschung. Ständig wurde gezetert und geschimpft im aufgewirbelten Staub. Wehe, der im Tor kam vorher zu weit heraus aus seinem Kasten oder verstellte beim Zurücklaufen den Weg des Gegners! Das war alles nicht erlaubt, außer man war zufällig der weitaus Stärkere.

Fußballspielen war nicht alles, was die Siedlung zu bieten hatte. Beliebt war auch, in bandengleichen Gruppen die Gegend zu erkunden und manchmal etwas mitgehen zu lassen, waren es Erdbeeren aus Gärten, Autoantennen oder brauchbare bis nutzlose Dinge aus Kellern. Die Hartgesottenen probierten es mit Autoradios oder Brüchen in Trinkhallen und Geschäften. Manche von ihnen waren vorbestraft und einer sogar auf der Flucht vor der Polizei, wie ich später erfuhr. Das war ein Junge, der mit 16 Jahren bereits ein volles Kerbholz hatte und den man Günna rief. Er war der Grund dafür, dass die Polizei eines Tages die ganze Siedlung umstellt hatte, er sollte festgenommen werden. Eine Verfolgungsjagd nahm so ihren Anfang. Zur Unterhaltung der ganzen Siedlung. Familien standen auf den Gängen, sahen Polizisten mit gezogenen Pistolen, manche trauten sich trotzdem nach unten. Während die Polizei einige Wohnungen und Keller im vierten Bau durchsuchte, wurden die kleinen Kinder von den Eltern und Geschwistern grob in die Wohnungen gescheucht. Aus einem Polizeiauto drang bellend die Aufforderung, von den Gängen zu verschwinden und die Polizei nicht zu behindern. Man ignorierte das und sprach über Polizeischikanen an den Treffpunkten der Jugendlichen und Schläge auf der Wache. Einer beschwerte sich über die schlechte Behandlung, sobald man die Siedlung nur einen Schritt verlassen habe. Es reiche, den Namen der Straße zu sagen, um abweisende Blicke zu ernten. Zwischendurch stellte man Vermutungen an, was der Gesuchte wohl wieder angestellt habe. Der Günna genoss einen gewissen Respekt, weil er mit der Polizei Katz und Maus spielte, auch wenn nicht jeder seine Taten billigte. Einige Nachbarn waren ganz und gar auf seiner Seite, andere hielten ihn für verkommen, für einen, der nicht alle Tassen im Schrank habe, und es ging das Gerücht, er habe eine Knarre. Da beschlich mich auf einmal der Gedanke, gleich würde ein Schuss fallen und jemand müsse sterben. Ich ging zum offenen Treppenhaus, um nach unten zu schleichen. Meine Mutter rief mir nach, ich solle zurückkommen. Doch ich hörte nicht auf sie, ich hörte nur noch selten auf sie. Eine unbestimmte Wut trieb mich an, als könne ich einem Unrecht zuvorkommen. Indessen schien Günna eine weitere Flucht gelungen zu sein. Die Polizei trat den Rückzug an und vereinzelt gab es Pfiffe und hämische Sprüche von den Gängen.

In der Siedlung war unsere Küche zugleich das Wohnzimmer. Ich sehe die große Couch mit dem Küchentisch davor. Ich sehe die tiefe Fensterbank mit den ewig gleichen Pflanzen und der Flasche Bier des Vaters, die dort meistens stand. Die Flachmänner wusste er zu verstecken. Unter der Fensterbank war ein Schrank, dessen Türen klemmten, was zu manchem Tobsuchtsanfall führte. Darüber das große Fenster mit den weißen Gardinen. Eine Gardine auch vor der Balkontür daneben. Immer sauber und immer akkurat. Als gäbe es kein anderes Lebensziel. Lange Zeit schrie die Mutter auf, wenn wir den empfindlichen Stoff achtlos beiseite schoben, um auf den kleinen Balkon zu kommen. Von der Küche ging auch eine Tür zum Kinderzimmer ab, das später das Schlafzimmer der Eltern wurde. Was nicht ganz stimmt. Der Vater schlief ja meistens auf der Couch, die Mutter mit den beiden Kleinen im Ehebett. Wir drei ersten Kinder, im Abstand von 3 Jahren und 3 Wochen auf die Welt gepresst, ohne dass die Welt wusste, wie das so schnell geschehen konnte, wir teilten uns das Kinderzimmer. Zwölf Quadratmeter mit einem Doppelstockbett aus Eisen, in dem wir zu dritt schliefen. Ich mit meinem Bruder, der nach mir kam, beide im unteren Bett. Manchmal sah ich, dass er die Strümpfe wieder angezogen hatte, der Schummler. Aber nicht, weil er fror, sondern weil er als erster angezogen sein wollte. Das war morgens, vor dem Weg zur Schule, ein erbitterter Wettstreit manchmal. Triumphgefühl für den, der zuerst Erster! rief, um dann im engen Schlauch der Toilette mit Duschkabine und Waschmaschine zu verschwinden, als sei erst dann der Sieg gesichert.

Unsere Küche war der größte Raum der ganzen Wohnung. Sie hatte eine Therme, darunter der wuchtige Spülstein aus Keramik. Einen Säugling hätte man darin baden können! Vielleicht hatte meine Schwester einmal das Vergnügen, die kleinste und letzte im Bunde. Daneben stand anfangs ein Kohleofen, ohne den lange nichts ging. Bis später ein Herd den Ofen ersetzte. Das war ein Segen. Allein wegen des wegfallenden Staubs, dem die Generation meiner Mutter verbissen und aufreibend den Kampf angesagt hatte. Der Staub, die Fingerabdrücke der Kinder und die Vergeblichkeit waren wie Benzin auf die glimmende Flamme der Wut.

Neben dem Kühlschrank stand unsere Couch, die später durch eine Eckbank ersetzt wurde, als die ersten Kinder den Haushalt verließen. Auf der Couch lag immer eine Decke, um den Bezug zu schonen, ordentlich und stets glatt nachgezogen. Einmal aber war die Decke selbst meiner Mutter egal und es gab kein Schreien und Zetern. Das war 1974. Ich hatte Geburtstag und es lief das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft. Wir hielten es vor Spannung kaum aus. Ständig waren wir in Bewegung, konnten einfach nicht ruhig sitzen. Beim Spiel gegen die Schweden zuvor waren wir ausgerastet. Es stand 2:2. Der Vater auf der Toilette. Dann fiel das 3:2 für Deutschland. Er hatte den Hosenschlitz noch offen, als er zurückkam und in den ungebremsten Jubel eintauchte. Da war mein Vater gut. Wir schrieen [schrien], lachten und umarmten uns. Beim Schlusspfiff lag die Decke dann auf dem Boden, ohne dass es eine Ermahnung gab. Da war auch meine Mutter gut.

Als Deutschland Weltmeister wurde, sind wir Kinder raus auf die Straße. Einer hatte sogar eine Fahne gebastelt. Wir taten etwas für den Ruf der Siedlung und bejubelten den Sieg. Aber niemand sonst schloss sich uns an. Die Straßen waren leergefegt. Uns kümmerte das wenig. Vaters Gang zur Toilette wurde in der Folge zur Legende. Auf Familientreffen wurde eine Zeitlang gerne daran erinnert.

Wenn ich an die Küche denke, verwandelt sie sich manchmal in ein Kaleidoskop der Erinnerungen. Bilder der Gewalt, des Leids und der Stille drängen sich hervor in meinem wehmütigen Kopf.

Ich stehe an der großen Fensterbank und die Familie hält Gericht, ohne gerecht sein zu wollen. Ich bin angeklagt als Unruhestifter, als der Streitsüchtige der Familie, der mit seinen Widerworten immer das letzte Wort haben müsse. Mit dem Heim drohen mir die Eltern und treiben mich verzweifelt aus der Küche. Auch fordern sie mich auf, endlich aus ihrem Leben zu verschwinden. Ich bin empört und spüre den beißenden Schmerz der Scham. Meine Verteidigung leidet unter Atemnot, die Sätze ringen nach Luft, die Worte fallen auseinander. Ich weiß nicht mehr, was richtig ist und wie ich alles wieder geraderücken könnte. Verliere mich in Wut über die Worte ohne Trost.

Nicht selten, wenn in der Küche das Schreien meiner Mutter gegen das Chaos unberechenbarer Kinder keinen Widerhall mehr fand, fiel sie in eine erschöpfte Ohnmacht und stellte sich tot. Mit angewinkelten Beinen und ihrem ewigen Kittel lag sie auf dem PVC-Boden, ihr Gesicht verborgen unter einem Arm. Manchmal lachten wir und stiegen über sie hinweg. Sie markiert doch nur! sagte ich einmal und einer meiner Brüder lachte, während der Kleinste im Türrahmen stand und vergessen weinte.

Nach den ganzen Dramen nahm ich manchmal eine seltene Stille wahr. Wenn niemand da war in der Küche und alles an seinem Platz. Als erzählten die Gardinen all die Geschichten wie im Märchen, begleitet vom Ticken der Wanduhr und dem vertrauten Zünden der Flamme im Boiler. Ein Frieden, der mir manchmal wie Heimat vorkam. Oder wie ein Versprechen, als würde doch noch alles gut.

Ich würde viel vergessen haben, wenn ich nur die Dramen und die seltenen Momente in dieser Küche behalten hätte. Sie erlebte so viel mehr. Langes Nachtragen kannte sie nicht und das nächste Lachen war nicht weit. Vor allem dann, wenn wieder Geld da war und die Schulden nicht drückten, gar nicht zu existieren schienen. 

Einmal gab es eine Nachzahlung, vielleicht war es auch ein Gewinn. Der Vater kommt mit einem Lächeln in die Küche und wirft lauter Geldscheine in die Höhe, die sich flatternd im Raum verteilen. Du Spinner, sagt die Mutter grinsend und fällt über die Scheine her. Wir umringen sie und stoßen Wünsche aus, erinnern die Eltern an ihre Versprechen. Später, sagt der Vater, gibts nich, die Mutter. Die Scheine verschwinden schnell in ihrer Kitteltasche. Wir drängen, bis jeder seine Groschen für die Bude hat und endlich Ruhe ist in der Küche.

Geld hob bei uns genauso zuverlässig die Laune wie Geldmangel sie auf den Tiefpunkt brachte. Sicher gab es Ausnahmen. Wenn es keinen Strom gab, abgestellt von den Stadtwerken. Kein Fernseher, kein Herd, kein Licht. Aber es gab Kerzen und Spiele und vielleicht einen Spieleabend, der sogar das ewigen Streiten der Geschwister leichter machte, weniger laut und verbissen. Und mancher Nachbar half mit heißem Wasser oder einer Decke. Unvergessen.

Die Zeit in der Siedlung und die Küche sind ohne den Fernseher nicht denkbar, der eingezwängt stand zwischen der Tür zum Schlafzimmer und dem braunen Wohnzimmerschrank von der Mutter meines Vaters. Fury, Lassy, Flipper, Lolek und Bolek, die bezaubernde Jeannie.

Einmal schaute ich am späten Nachmittag Bonanza. Der jüngste Cartwright in der Schusslinie der Gangster. Er schafft es nicht weg, rutscht immer wieder ab. Er ist verzweifelt und ich bin er. Bis seine Rettung mich erlöst und mir ein paar verschämte Tränen kommen. Zum Glück war nur meine Mutter da, die auf ihrem Platz saß und müde die Strümpfe der Kinder stopfte.

Oder Aktenzeichen XY. Der gesuchte Mörder verteilt sein Opfer als Leichenteile in der Landschaft. Die nachgestellte Szene, in der jemand einen Torso findet oder einen Arm. Jahrelang konnte ich danach die stillen Wege nicht mehr gehen, ohne zu rennen. Plastiktüten im Gebüsch ließen mich erschauern. Ein weiteres Konto der Angst, tief in den Miesen mit vierzehn.

Und die Hitparade, immer wieder Hitparade. Albernes Gekicher dazu, wenn wir den Dieter-Thomas Heck parodierten. Die Mutter: Bescheuerte Blagen! Hört endlich auf!

Sonnenburg. Einmal fragte ich mich, warum man unsere Siedlung so nannte, und fand keine Antwort. Ich sah keine Burg, wohl aber die vielen kleinen Balkone, auf denen niemand sein Gesicht in die Sonne legte. Auch gab es breite Wiesen hinter den Blöcken, die nicht nur für das Wäschetrocknen da waren, sondern auch für allerlei laute Spiele und kleine Dramen, nicht weit davon entfernt die verdreckten Sandkästen, in denen nie jemand zu spielen schien.

Später verstand ich: Sonnenburg, das meint 356 Tage Urlaub im Jahr: Wer in dieser Siedlung wohnt, ist arbeitslos, lebt vom Staat. Wer in dieser Siedlung wohnt, ist arbeitsscheu. Da liegt es nahe, zu wissen, dass, wer dort wohnt, auch kriminell ist. Sie vermehren sich wie die Karnickel. Wie die Ausländer! Sie sind fremd und verdächtig. Wie die Zigeuner! Alle haben eins gemeinsam, sie liegen den ganzen Tag auf der faulen Haut. Sonnenburg, sarkastischer Code mit Hinterausgang. Sprachphantasie der Ausgrenzenden.

In der Hauptschule und im Fußballverein bekam ich lange Zeit zu spüren, was man von mir hielt. Man hielt mich auf Abstand, wollte auch keinen Ärger mit mir. Mein einziger Freund in der Schule war als Kauz verschrien. Im Fußballverein fand ich keine Freunde. Ich war ein leidenschaftlicher Fußballer. Bei Straßenspielen war ich schnell, dribbelstark und mein Schienbein hart im Nehmen. Im Verein aber war ich gehemmt. Die Scham saß mir im Nacken und ich hatte oft kein Geld, wenn es nach einem Spiel ins Vereinsheim oder in die Kneipe ging. Erst spät fand ich in der Schule eine gewisse Akzeptanz. Rockmusik, wilde Haare und Jeanskutten verbanden uns. Und die Langeweile. Im Jugendheim, wie wir es nannten, traf ich später einige Klassenkameraden wieder. Dort fiel ich durch meinen vielseitigen Musikgeschmack auf. Und ich hatte Ideen. Ich lief mit einem Kassettenrekorder herum und nahm Gespräche auf. Das war oft lustig, das unterhielt, vor allem die Interviews und meine direkten Fragen.

Als ich mich 1977 auf eine Stelle als Elektroinstallateur bewarb, eingestielt durch meinen Stiefopa, der am anderen Ende der Stadt wohnte, war mir bange ums Herz, während ich an die unausweichliche Frage nach meinem Wohnort dachte. Sonnenburg war keine Option.

© Januar 2024 by Wandelkern   Lesermail