Begegnung
Sie entdeckte das Kind zwischen zwei Mülltonnen in einem Verschlag aus Beton. Es sass auf dem Boden und weinte, das Gesicht in den Armen vergraben. Sie schaute sich um, stand unschlüssig da, roch faule Lebensmittel und Urin, blieb gegen ihren Ekel. Das Kind schaute auf und wischte sich Tränen aus den Augen, als wolle es sie unsichtbar machen. Es war ein Junge. Sie schätzte ihn auf sechs, höchstens sieben Jahre. Nervös schaute sie wieder zur Straße, gab sich einen Ruck und ging langsam ein paar Schritte auf das Kind zu.
Alles in Ordnung? Das Kind schwieg. Willst Du nicht aufstehen? Das ist doch nichts für einen Jungen hier. Sie versuchte aufmunternd zu wirken. Draussen kommt die warme Sonne wieder, willst du sie nicht begrüßen. Sie fand sich albern. Das Kind stand auf und beäugte sie misstrauisch. Noch keine sieben, dachte sie. Seine Blicke zu ihr herauf waren nur kurz, als ob sie riskant seien oder er seinen Sinnen nicht traue.
Dann seufzte es, wie ein Kind nur seufzen kann, das nach der Verzweiflung erste Erleichterung spürt. Seine Traurigkeit berührte sie, was sie zu überspielen versuchte: Was sie überhaupt hier tat und ob es nicht besser sei, jetzt einfach zu gehen. Nein! Zuerst wollte sie raus hier. Mit dem Jungen. Raus aus diesem Zwielicht, das durch Aussparungen drang, wie durch Schiessscharten eines Bunkers. Ein Bunker für traurige Kinder. Das Kind folgte ihr. Sie war froh, als es draußen war. Es ging ein paar Schritte und blieb unschlüssig stehen.
Und, ist doch besser, nicht? fragte sie und suchte seine Augen. Sie ignorierte den leisen Impuls, das Kind zu berühren, eine tröstende Hand auf seine Schulter zu legen. Wie es so verletztlich stand! Klein, dünn, verlassen, verdreckt im Gesicht mit dunklen Armen, als sei er viele Stunden um Häuser gezogen, allein durch Sträucher gekrochen. Kaum wahrnehmbar bewegte es den Kopf, der eine Antwort schuldig blieb. Sie spürte einen Stich, den sie nicht wahrhaben wollte. Sie muss ihn ziehen lassen. Er ist zu keiner Antwort fähig. Sie sah auf seinen kahlgeschorenen Kopf. Lieblos geschoren! Als gehöre der Kopf einem Strafgefangenen! Ruppig zöge eine Maschine über den Schädel und frässe weiches, unschuldiges Haar. Eine leise Wut stieg in ihr auf.
Gehst am besten nach Hause jetzt, Deine Eltern suchen dich sicher, sagte sie sanft. Er rührte sich nicht, sah auf den Boden. Oder soll ich dich begleiten? Darf nicht mit Fremdem reden, sagte er. Dann rannte er weg. Leichtsinnig über die Straße, hin zu einer Ansammlung von Betonbauten, die mit ihren 8 Stockwerken und den nassgrauen Fassaden der Schandfleck der Stadt waren. Und mit ihnen die Leute, die darin wohnen mussten.
© März 2023 by Wandelkern Lesermail