Zündeln

Einige Monate vor meiner Einschulung wurde ausgerechnet eine stillgelegte Grundschule unser neues Zuhause. Sie hatte vermutlich zwei Weltkriege überstanden. Der Haupteingang war seltsam schmal im Gegensatz zu den breiten Treppen. Sie führten über drei Stockwerke zu den Klassenzimmern, auf jeder Etage drei. Zum dritten Stock verengte sich die breite Treppe und anfangs traute ich mich dort nicht hoch. Sie führte zur Luke eines Dachbodens.

Einmal überredete ich meinen Bruder, ein Jahr jünger als ich, mit mir dort hochzugehen, um zu erfahren, was sich hinter der Dachluke verbarg. Andere Kinder im Haus behaupteten, dort wohne der Bullemann, manche vermuteten auch Ungeheuer und Mörder. Aber die Neugier war größer. Es war ruhig im Treppenaufgang, kein Erwachsener in der Nähe. Schnell und leise nahmen wir die Treppe, bewaffnet mit einer Schachtel Streichhölzer. Streichhölzer waren begehrt. Was man damit machen konnte! Die Dinge, die mehr oder weniger schnell Feuer fingen, verwandelten sich wundersam. Wie faszinierend, was da manchmal übrig blieb nach Flammen und Glut: Manchmal etwas Leichtes und Schwebendes, manchmal wurde etwas braun und dann wieder zu einem glänzenden Schwarz. Die Streichhölzer stibitzte ich aus unserer provisorischen Küche, einer Küche in einem der Klassenzimmer, bestehend aus Herd, Kommode, Tisch und Spülstein, daneben die Kreidetafel, die wir zum Leidwesen unserer Eltern unermüdlich rauf und runter schoben. Der Schlafraum für die Eltern und meine beiden Brüder war durch eine Mansarde getrennt, die den Ärger bringenden Hang hatte, umzufallen, sobald wir sie nur schief ansahen.

Die Streichhölzer besorgte ich mir auf verschiedenen Wegen. Ich erinnere mich an eine Trinkhalle, die jeder, der sprechen konnte, nur Bude nannte und die in meiner Kindheit stets von unfreundlichen alten Menschen bewohnt war, die aus ihrer Abneigung gegen Kinder, die mit wenigen Pfennigen in der Tasche auftauchten und sich nicht entscheiden konnten, keinen Hehl machten. An einer solchen Bude erstand ich das begehrte Schächtelchen mit Streichhölzern, indem ich frech behauptete, daß meiner Mutter der Ofen ausgegangen sei (wie bestimmte Notlügen aus der Zeit fallen). Dann gab mir ein murrender Kopf eine Schachtel heraus, die ich mit wichtiger Miene und klopfendem Herzen an mich nahm. Schnell vergrub ich sie in eine Hosentasche und nur wenn ich mich unbeobachtet fühlte, holte ich sie hervor und lauschte mit einem Anflug schlechten Gewissens und wohliger Zündellust dem vielversprechenden Rascheln. Den nötigen Groschen hatte ich mir aus der Kitteltasche meiner Mutter geliehen, die ich manchmal etwas genauer untersuchte, um eine vergessene Süßigkeit aus ihrem einsamen Dasein zu befreien. Manchmal entdeckte ich Streichhölzer auch in einer Schublade und entführte wendig ein paar davon in eine alte Streichholzschachtel, in der ich ausgetrocknete Mini-Frösche oder kleine Steine aufbewahrte.

Die schwere Dachluke zu öffnen, war eine Herausforderung. Das Holz war schwer, breit und knarrte. Mit dem Geschick und den Willen von Kindern, die schwere Dinge und schwere Herzen gewohnt waren, verschafften wir uns flüsternd und geschickt Zutritt. Dort oben roch es nach Holz und Staub. Über uns ein hoher Giebel. Überall lagen wirr alte Stühle mit gebrochenen Beinen und aufgerissenen Polstern. Aus diesen lugte ein verlockender gelblicher Schaumstoff hervor, der weich und nachgiebig war und geradezu nach heißem Schwefel rief. Fasziniert beobachteten wir, wie sich die gelbe Materie unter der Flamme in schwarze, brutzelnde, übel riechende Tropfen verwandelte. Es scheint mir eine Warnung gewesen zu sein, daß mir ein solcher Tropfen auf dem Handrücken fiel. Dabei spürte ich bis ins Mark, dass ein neugieriges Spiel mit dem Feuer nicht nur sehr schmerzhafte Seiten haben kann, sondern auch Folgen, die meiner Vorstellungskraft bis dahin fremd gewesen waren.

Vielleicht war diese Erfahrung ein Grund, den Dachboden zukünftig zu meiden, ohne daß das Zündeln seinen verlockenden Reiz verlor. Ich weiss noch, wie ich mit meinem Bruder einen großen festen Karton auf die Schulmauer stellte und wir darin unsere Köpfe versteckten. So getarnt glaubten wir uns in Sicherheit und setzten Papierfetzen in Brand, nicht ohne uns ständig zu zanken, wer zündeln darf. Meinem Vater war das einerlei, als er uns nach der Arbeit erwischte und wütend den Karton von der Mauer riss. Und da ich die Schachtel in der Hand hielt, hatte er gleich den Schuldigen ausgemacht. In seinen Augen war ich der Anstifter und er ließ mich seine Wut spüren. Nicht dass mein Vater mich geschlagen hätte. Als er mich einmal weggeschubst hatte und ich mir an einer Fensterbank aus Mamor den Hinterkopf blutig schlug, war er aufrichtig erschrocken gewesen und hielt sich seitdem zurück. Körperliche Gewalt gehörte nicht zu seinem Temperament, auch verbal blieb mein Vater sparsam. Das erklärt vielleicht manchen seiner beeindruckenden Ausbrüche. Dann spritze er sein Gift wie eine vorpreschende Riesenameise heraus, was mir eine schmerzhaftere Gewalt war als Schläge.

Natürlich war ich erschrocken darüber, meinen Vater so ausser sich zu erleben. Mein Bruder dagegen schien mir fein raus zu sein. Zwar wird er auch verstört geschaut haben, verstand es aber, sich abseits zu halten, wohl um sich vergessen zu machen. Ich empfand das als Verrat, als einen doppelten Verrat, denn allein ich wurde mit bösem Schall auf die zukünftige Strafe eingestimmt, während mein Bruder sich tapfer aus dem Staub machte. Vielleicht war es ihm auch eine Genugtuung, weil er beim Zündeln oft den Kürzeren zog.

© Juni 2020 by Wandelkern   Lesermail

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