Freundschaft
Ich vermisse Dich. Das habe ich noch nie einem Mann geschrieben. Ich empfinde keinerlei Befremden dabei. Im Gegenteil: Seltene Vertrautheit.
Ich vermisse unsere Telefonate. Ihre Art, ihren Beginn. Ganz egal, ob wir drei Tage oder drei Monate nicht miteinander gesprochen hatten: Vor einem Gespräch steht fast immer unser Lachen. Ist Dir das schon aufgefallen? Wir geben uns eine ironische Bemerkung, selbst ein spöttisches Grunzen reicht machmal aus und schon geht ein sich gegenseitig verstärkendes Gekicher und Lachen los, manchmal bis tief in den Bauch hinein. Jeder von uns in einer komödiantischen Rolle, in die wir früher zappelnd bis absurd gefangen waren. Lebensrollen, die uns heute weit entfernt erscheinen und doch zu einem liebenswerten Teil von uns selbst geworden sind. Unser Lachen ist die Erleichterung, dass das Leben mit unseren ganzen Widersprüchen etwas leichter geworden ist und wir im gemeinsamen Wachsen unsere Freundschaft vertieft haben.
Unser Lachen. Das vermisse ich jetzt. Aber keine Sorge, das wird kein Liebesbrief, nicht dass Du Dir Hoffnungen machst ;). Aber ein Lob der Freundschaft, das sollte doch jederzeit erlaubt sein oder?
Jetzt fällt mir so vieles ein über uns. Weisst Du noch, als wir unterwegs Richtung Süden waren? Es war unser erster längerer Urlaub und da hatten sich in den Anfangstagen kleine Dinge angestaut, mit denen wir uns gegenseitig auf die Nerven gingen. Und dann stritten wir uns wegen einer Nichtigkeit. Vor der Kasse eines Discounters gifteten wir uns an und brachten uns mit maßlosen Übertreibungen gegenseitig in Rage. Im Auto wurde es dann sarkastisch, bis nur noch Geschrei half, um unserer Hilflosigkeit auf die Spitze zu treiben. In der Stille zwischen dem Geschrei sah ich aus dem Augenwinkel, wie Deine Hand zuckte, als wolle sie die Autotür öffnen und du ein für allemal aussteigen. Das wirkte so hilflos auf mich, dass es mich berührte, von der Enttäuschung aber beiseite gedrängt wurde.
Wir fuhren gekränkt zu einem riesigen Einkaufszentrum weiter und fanden einen Parkplatz. Ich stieg schweigend aus, um in einem der monströsen Hallen nach einem Bio-Espresso zu suchen. Ich ging einfach los und stand auf einmal in einer Passage mit Menschenströmen, die riesige Einkaufswagen schoben. Ich wollte gleich wieder gehen, fragte mich, was ich hier tue mit Schmerz in der Brust. Aber ich irrte mich bis zum Kaffeeregal durch und stand unschlüssig davor, schier erschlagen vom Angebot. Ich haderte, befürchtete, die nächsten Tage würden von Unmut und Distanz geprägt. Ich sah unsere Freundschaft schwinden. Ich empfand mich als Versager, der es unverzeihlich fand, sein Gesicht verloren zu haben. Ich driftete ab in Selbstverachtung. Je länger ich aber vor dem Regal stand und so tat, als suche ich den richtigen Kaffee, umso absurder erschien mir die Situation. Und dann kam ein Engel als Gedanke: Niemand verlangt, dass du beleidigt durch die Gegend irrst.
Der Schmerz war so schnell verschwunden, wie er gekommen war. Wut und Sorge wurden von einer leisen Zuversicht wie in einen Nebel getaucht, der die Dinge vage und unsichtbar macht. Es gibt keinen Grund für das Ende einer Freundschaft, dachte ich und stand dem Lachen und Weinen so nahe, dass ich staunte, ja, ich genoss das Paradox. Ich nahm ein Paket Kaffee und ging zur Kasse. Ich wollte schnell zu Dir, Dich aus Deinem Wartestand, aus deiner Ungewissheit erlösen, Dich nicht erfrieren lassen in dieser Vorhölle des Habens.
Ich fand das Auto tatsächlich wieder. Nach einem kurzen Zögern stieg ich ein und fiel mit einem tiefen Atemzug in den Sitz. Ich schwieg. Du schwiegst. Wir schwiegen geradezu sensationell. Beide hatten wir uns längst verziehen, wollten uns aber noch etwas zappeln lassen. Kleinlaut entschuldigte ich mich und startete das Auto. Am nächsten Tag, beim Frühstück, liessen wir das Geschehen Revue passieren und ich erzählte Dir von Deiner zuckenden Hand. Wir haben viel gelacht. Auch jetzt beim Schreiben lächle ich im Einklang mit den Worten und spüre zugleich Wehmut. Ich empfinde die Tiefen und Untiefen unserer Freundschaft als ein kostbares Geschenk. Sehe zu, dass Du bald wieder zurück bist. Es gibt wieder viel zu erzählen.
© Oktober 2021 by Wandelkern Lesermail