Verstimmung
An dem Tag schien die Sonne warm und freundlich und ihr Licht webte wenig später ein seltsames Gespinst in mein Gemüt. Andrea war gerade nach Hause gefahren. Ja, ich weiss, was Du jetzt denkst. Aber so ist es, wir sind wieder zusammen. Das ist verrückt, nach dem, was alles passiert ist, aber ich bin anscheinend vernarrt in diese Frau.
An dem Tag also hatten wir uns gestritten und mir wurde erst im Nachforschen halbwegs bewusst, was da passiert war zwischen uns. Es fing damit an, dass ich vom Brötchenholen zurückkam. Es hatte etwas länger gedauert, da ich noch schnell einen Cappuccino trinken musste. Du kennst ja meine Schwäche, dass ich an keinem Kaffeeangebot ohne Willensanstrengung vorbeigehen kann. Als ich wieder zurück war, bemerkte ich, dass sie genervt davon war, dass ich sie wegen eines banalen Kaffees habe warten lassen. Ich spielte beiläufig die Dauer meines Wegbleibens herunter und sie reagierte mit stummen Argwohn. Ich vermutete still, dass ihr der Hunger das Warten verleidet hatte; beim Thema Essen hört bei ihr der Spaß bekanntlich auf.
Wir machten die Verstimmung in der Folge nicht weiter zum Thema. Doch ihre Mimik ließ keinen Zweifel daran, dass sie nicht mehr bei mir war. Ich sehe sofort feinste Nuancen der Abwehr in ihrem Gesicht, das ich oft gerne betrachte, vor allem ihr Profil. Ich geniesse den Lauf der Linie von der Stirn bis zu ihrem Hals hinunter, darin eingebettet ihre großen, braunen Augen, die zärtlich und kindlich wie auch verschlossen und verloren schauen konnten. An dem Morgen waren wir beide beim Aufwachen verzaubert worden und hatten uns geliebt. Ich lag danach entspannt und glücklich neben ihr, wie ich das selten in einer solchen Intensität erlebt hatte. Ich küsste einige Male ihren Oberarm, spürte ihre weiche Haut und glaubte, dass wir eine Chance hätten, dass mit uns alles gut werden würde.
So intensiv die Zuneigung (oder Nähe?) zuvor auch war, sie verwandelte sich mit kränkender Direktheit in ein Befremden und wir taten, was wir beide besonders gut können, wir taten so, als ob nichts geschehen sei. Im Grunde hatte ich genauso wenig Verständnis für ihre Schwäche, wie sie für meine. Schwächen, über die wir uns manchmal lustig machen, aber ausgerechnet an diesem Tag gelang uns das nicht. So richtig habe ich das Geschehen immer noch nicht verstanden und vielleicht ist auch nicht alles zu verstehen, was dieses Chaos an Stimmungen, Ahnungen, Erwartungen und Missverständnissen zwischen zwei Menschen bewirkt. Vielleicht wäre das ein Ausdruck von Demut, nicht alles verstehen und einordnen zu müssen. Es einfach manchmal sein lassen, die Selbsterkenntnis und das Verstehen wie auch das Verständnis zu optimieren!
Witzigerweise fällt mir dazu jetzt ein Phänomen aus der Natur ein, das ich einmal mit aufmerksamen Staunen beobachtet hatte: Das unscheinbare Blatt einer mir unbekannten Pflanze flatterte ein rhythmisches Solo mit einem kecken Winken zwischendurch, als wolle es die anderen Blätter, die konzentriert und still waren, animieren. Warum nur dieses eine Blatt unter vielen? Was verursachte diesen Tanz und schloß die anderen Blätter aus? Im Nachhinein ist das nicht zu erklären, nicht zu wiederholen, wie lange wir auch darauf warten würden. Verstehst Du, was ich meine? Es ist wie das Chaos zwischenmenschlicher Interferenzen, das spontane und unerwartete Wellen erzeugt. Wir wissen nie wohin diese Wellen uns treiben, was sie innerhalb von Millisekunden schwächt oder stärkt, wie hoch sie ausschlagen, wie lang oder kurz sie nachschwingen. Die Amplituden unserer Gewohnheiten, Erwartungen, Ängste, Täuschungen, kurz, das ganze lebenslange Solo unseres Kopfes erscheint dem anderem immer nur auf Zeit und niemals in Gänze vertraut. Angesichts dessen erscheint es mir absurd, aus einer enttäuschten Erwartung ein Drama zu machen. Aber für sie und mich war es zu verlockend, unseren Kopf durchzusetzen.
Als ich den Milchkaffee für uns zubereitete, beschloss ich zuerst, die Verstimmung nicht weiter ernst zu nehmen und nahm mir vor, mich nicht zu ärgern und die Nähe wiederherzustellen, folgte aber dem Impuls nicht, sie von hinten zu umarmen, ihren Hals zu küssen und ihre Brüste zärtlich in meinen Händen zu wiegen, was ich häufig tat und was ihr sehr gefiel. Die enttäuschte Erwartung zwickte noch wie ein winziger Splitter unter der Haut. Ich dachte, dass ich von ihr ein souveränes Verhalten gegenüber meiner Verspätung erwarten darf, ohne das mir bewusst wurde, das ich das trotzig als mein gutes Recht ansah. Der klassische Kindskopf, nicht wahr? Aber ich tat am Tisch (wie sie auch), als ob nichts gewesen wäre und sprach die Party an, zu der mein Bruder uns eingeladen hatte. Ich freute mich darauf, dass sie etwas kochte aus ihrem großen Fundus leckerer Gerichte, die meinen verhangenen Geschmackshorizont unerwartet schnell gelichtet haben und immer noch bereichern. Du weisst ja, dass ich ihr größter Fan und Abnehmer geworden bin. Erstaunlicherweise hatte vegetarisches Essen bis vor einigen Jahren doch so gut wie keine Bedeutung für mich. Das nun ist wiederum ein schönes Beispiel dafür, dass Zuwendung und Bewunderung ein gegenseitiges Assimilieren ist, das die Nähe nährt und zwei Menschen verändert. Es kam zum Schlagabtausch, der bis zur Eskalation führte. Nach dem ich mich davon ein wenig erholt hatte, schrieb ich einen Dialog (!) in mein Notizbuch, in der Hoffnung, zu verstehen, was da genau vor sich geht zwischen uns, wenn aus dem Vertrauen so unerwartet und schnell ein giftiges Tête-à-Tête wird.
Sie: Ich könnte den Tomaten-Bohnen-Salat machen, den ich letztens für die Party von Christiane gemacht habe.
Ich: (wenig begeistert): Kam der gut an?
Sie: Klar! Ich muss aber arbeiten. Freitag und auch Samstag! Habe danach nur wenig Zeit.
Ich: Wolltest du nicht das leckere Linsen-Curry machen?
Sie: Hatte ich das gesagt?
Ich: Nicht?
Sie: Ich meine nicht.
Ich: Willst du denn was kochen?
Sie: Klar, aber ich weiss nicht, wie ich das schaffen soll.
Ich: Aber du kommst doch mit zu meinem Bruder oder?
Sie: Klar, warum sollte ich nicht mitkommen?
Ich: Weiss nicht, ich hatte den Eindruck grad.
Sie: So richtig Lust habe ich nach der Arbeit nicht gerade.
Ich: Verstehe. Dann bleibst Du wohl zu Hause. Schade.
Sie: Vor allem Samstag ist immer die Hölle los im Laden. Danach bin ich immer sehr erschöpft. Das weisst du doch!
Ich: Ich wusste nicht, dass du arbeiten musst.
Sie: (ungehalten): Habe ich dir doch erzählt!
Ich: (betont erstaunt): Wann?
Sie: Vor drei Tagen! Hörst Du mir überhaupt zu?
Ich: Ich kann mich nicht erinnern, ist wohl in der Hektik untergegangen.
Sie: Ich habs Dir erzählt!
Ich: Mag ja sein, aber ich habe auch viel im Kopf, muss auch viel arbeiten grad.
Sie: (legt das Brötchen auf den Teller): Immer dasselbe.
Ich: Was?
Sie: Es geht immer nur um dich! Jedes Mal! Merkst Du das überhaupt nicht?
Ich: Diese Leier wieder, bitte nicht!
Sie: Die Wahrheit willst Du nicht hören, typisch für Dich!
Ich: War ja klar, du kennst die Wahrheit. Steht die in Deinen ganzen Lifestyle-Blättern?
Sie: Ich würde nie so zynisch sein zu dir!
Ich: Wenn ich zynisch wäre, das würde anders klingen! Aber das du mich besser kennst als ich mich selbst, was ist das denn? Wahrheit? Dass ich nicht lache.
Sie: Dein Egoismus ist doch offensichtlich. Du denkst immer nur an Dich. Wie es mir geht, interessiert dich nicht im geringsten!
Ich: Immer! Ich bin so verdammt schlecht. Warum bist Du dann überhaupt mit mir zusammen?
Sie: Das weisst Du genau.
Ich: Um mich fertig zu machen, stimmts?
Sie: Gemein bist Du auch noch!
Ich: Und du das Unschuldslamm, das Opfer, das kenne ich ja auch schon zur Genüge.
Sie (laut ins Gesicht): Ein totaler Narzisst bist Du! Du kotzt mich an! Mir kommt es bis hier oben hin.
Andrea packte ihre Sachen und verschwand, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Ich war nicht überrascht. Ich machte keine Anstalten, mich weiter zu verteidigen oder sie abzuhalten. Ich war in einer seltsamen Stimmung, erstaunt auch, dass ich nicht wirklich verärgert war. Als sie die Tür zuschlug, erinnerte ich mich an die ersten Monate mit ihr vor ungefähr zwei Jahren. Damals wurde sie selbst bei kleinen Unaufmerksamkeiten augenblicklich stumm, sagte einfach kein Wort mehr, wurde unnahbar. Ihr Gesicht erstarrte, nicht einmal direkt abweisend, einfach nur ohne sichtbare Regung, aber in den Augen Verachtung und Trauer zugleich, als kämpfe sie gegen sich selbst. Sie hat sich in den beiden Jahren geöffnet, kommt schneller und entschiedener aus sich heraus und ich konnte ihrem Ausbruch etwas abgewinnen. Lebendigkeit, die in ihr eingeschlossen war wie in einer Muschel, die nicht den kleinsten Reiz ins Innere läßt und nicht die kleinste Regung nach aussen.
Ich hatte keine gute Figur gemacht. Ich hatte unaufrichtig gehandelt und meinen Humor vergessen. Ich bin keineswegs das Unschuldslamm, doch bin ich froh, dass meine Antworten nicht mehr unkontrolliert in grobe Beleidigungen und wütende Beschimpfungen münden. Ich bin mir selbst sicherer geworden. Oder kommt es überhaupt nicht darauf an, wie die Worte gesagt werden und welche es sind, weil wir nie wissen, was wir im Anderen mit ihnen auslösen, scheinen sie noch so harmlos? Ich weiss es nicht. Ich weiss aber, was passiert wäre, wenn ich einfach nur dem Impuls gefolgt wäre, sie zärtlich zu umarmen. Wir beide wissen es.
Nun, der Tag schien gelaufen und Schmerz und Trauer, Sehnsucht und Wehmut überkamen mich. Sogar Atemnot! Selbst nach den ärgsten Träumen hatte ich niemals Atemnot. Alles sonst: Herzrasen, Schwindel, Gänsehaut. Aber Atemnot? Nahm mein Körper bereits das Unausweichliche vorweg? Freundschaft wollte sie auch nicht, um zu schauen, ob wir uns so besser verstünden, jeder frei in seinen Entscheidungen, aber keineswegs unverbindlich. Das mache keinen Sinn für sie. Dann lieber keinen Kontakt, vertrat sie rigoros. Und dass sie es ernst meint, daran zweifle ich keine Sekunde. Für sie ist das Verrat.
Ich ging spazieren. Die waldige Luft, das Singen der Vögel, die Präsenz der Bäume taten mir gut. Wenig später staunte ich darüber, wie dünn die Grenze zwischen Verstimmung und Schmerz sein kann und versöhnte mich mit mir. Bald würde ich sie anrufen.
© April 2020 by Wandelkern Lesermail