Angst in Arial
Aus heiterem Himmel wird ein Mann aufgefordert, über Angst und Scham nachzudenken. Begleitet von Straßenjunge taucht er in seine Kindheit und in die 80er Jahre ab. Er erinnert sich an eine ungewöhnliche Liebe und an die Zeit als arbeitsloser Punk, in der er seine Suche nach Bildung und Liebe auf eigene Füße stellte. Folgend 10 von 36 Kapitel:
- Genre: Roman / "Autofiktion"
- Umfang: 234 Seiten, 69449 Wörter
- Zeit: 60er bis 90er Jahre und Gegenwart
Inhalt
- Kapitel 1
Der Protagonist bekommt von einem Fremden einen Brief zugesteckt und staunt über den Inhalt. —>>
- Kapitel 2
Der Protagonist trinkt erst einmal Kaffee und erfreut sich einer Gewissheit. —>>
- Kapitel 3
Dem Protagonisten fällt die Kindheitserfahrung ein, zu sterben, ohne zu wissen, was der Tod ist. —>>
- Kapitel 4
Der Protagonist taucht noch etwas tiefer in seine Kindheit ein, spürt der harten Hand der Mutter und der Beständigkeit mancher Träume nach. —>>
- Kapitel 5
Der Protagonist exkurst über Twitter und virtuelle Liebe im Zeitalter der Apps und Messenger. —>>
- Kapitel 6
Der Protagonist erinnert sich an zwei Unfälle, die bisher nicht in seinem Portfolio der Angsturgründe waren. —>>
- Kapitel 7
Der Protagonist führt seine erste Liebe ein. Das ungleiche Paar macht Urlaub in Großbritannien und wird sich nicht wieder los. —>>
- Kapitel 8
Der Protagonist taucht in das Vorspiel zu seiner ersten Therapie ein: Er wird nicht glücklich mit abhängiger Arbeit und entdeckt den Punk. —>>
- Kapitel 9
Der Protagonist erinnert sich an seine Zeit als Schichtarbeiter in einer Autofabrik. —>>
- Kapitel 10
Der Protagonist geht in den Stadtpark, um den Fremden auf frischer Tat zu ertappen. Vergeblich. —>>
1
Plötzlich steht ein Mann vor mir. Einer wie aus der Zeit gefallen. Kariertes dunkles Hemd, die Hose Richtung Achseln, reichlich Stoff. Ein Jacket wie eines für Arme aus Babylon Berlin, der Schnäuzer ein Relikt. Er fragt, ob ich eine Sekunde Zeit habe. Ich bin nicht bester Laune, denke, ob man nicht wenigstens im Stadtpark seine Ruhe haben könne. Höflich bejahe ich. Unvermittelt holt er aus der Innentasche seines Jackets einen weissen Umschlag heraus. Ich schaue ihn fragend an.
„Der ist für sie!”
„Für mich?”
„Das kommt etwas überraschend, in der Tat.”
„Ja.”
„Nehmen sie ihn bitte und öffnen sie ihn, wenn ich wieder weg bin.”
„Wenn sie weg sind?”
„In vier Wochen komme ich wieder. Um die gleiche Uhrzeit, um 11 Uhr.”
„11 Uhr?”
„Ich erwarte Sie. Bei jedem Wetter.”
„Hoffentlich schüttet es nicht!”
„Bitte bringen Sie eine Antwort auf meinen Brief mit.”
„Was für ne Antwort?”
„Das alles klinkt etwas verrückt. Aber bitte keine Fragen. Das ist das Spiel.”
„Ach so, ein Spiel.”
„Nehmen Sie ihn? Sie müssen ja nicht.”
Das war schon fast frech! Baff sitze ich da. Er steht vor mir und streckt mir beharrlich den Brief entgegen. Sein flattriges Hemd erinnert mich an meinen Opa. Wenn der Schnäuzer nicht wäre, wäre die Ähnlichkeit erstaunlich, das sehe ich jetzt: Die gegerbte Haut, die Halbglatze, der runde Kopf und breite Mund. Der freche Fremde lächelt nicht mehr, um seinen Mund legt sich flüchtig Einsamkeit, die etwas auslöst in mir, etwas vertrautes. Ich schaue oft auf Münder, länger als in Augen, als wollte ich die Worte beim Ausströmen beobachten und die Stimme in Gestalt. Ich sehe mich den Brief nehmen. Der Mann nickt zufrieden, als habe er nie an mir gezweifelt. Er würde sich ausserordentlich freuen, mich in vier Wochen wiederzusehen. Ausserordentlich! Zackig hebt er die Hand zum Gruß und geht zügig ohne ein weiteres Wort fort. Mit angespannter Stirn schaue ich ihm nach.
Ich sehe mir den Briefumschlag an: Centware, dünn als sei er leer. Sehr sauber zugeklebt. Kohle? Glaube ich nicht. Ich drehe und wende ihn, kein Wort weit und breit. Endlich stehe ich auf. Ich schaue nach dem seltsamen Mann, der anfängt, mir unwirklich vorzukommen. Wie vom Erdboden verschluckt! Oben auf der Anhöhe ein Paar, darüber gerupfte Baumkronen, gefolgt von mattem Blau. In der anderen Richtung des Weges, auf dem der Fremde verschwand, ein Jogger, der gleich vorbeitraben wird. Lakai der Schwerkraft! Ich setze mich, stehe wieder auf und gehe ein paar Schritte. Kies knirscht. Wieder bleibe ich stehen und fixiere den Mülleimer, gleich neben der Eisenbank. Ich schaue hinein als sei ich ein einsamer Sammler. Plastikflasche, Rotztücher und eine zerknüllte Zigarettenschachtel.
Impuls: Rein damit!
Kontrolle: Keine Hektik.
Im Auto schaue ich mich um, als hätte ich etwas Verbotenes getan. Ich beobachte den Verkehr in der vagen Erwartung, dass der fremde Mann vorbeifährt. Ich könnte auch den Umschlag öffnen, aber irgendetwas will mich auf die Folter spannen. Der kleine Finger passt schon einmal nicht in den Spalt. Nicht die kleinste Lücke! Dann eben Taschenmesser. Habe ich am Schlüsselbund. Daumenlang, mit Kronkorkenkiller, den ich nur noch selten brauche. Dazu eine putzige Pinzette und eine scharfe Klinge. Letztere optimal für Briefe, die nervtötend verklebt sind und trotzig zu häßlichen Läsuren neigen. Ich schneide sauber, das ist meine Art. Ich hole ein Blatt heraus und entfalte es, als spielten meine Finger Akkordeon. Wie ich das Blatt auch drehe und wende, da steht nur ein Wort. Oben am Rand, zentriert, schmächtig und klein. 10 Punkt wahrscheinlich. Schriftart Arial, da bin ich mir sicher. Das Wort: Angst.
Volltreffer.
Mit Angst kenne ich mich aus, behauptet ein vorlauter Cortex mit Verbindungen zur Unterwelt. Angst essen nicht nur Seele auf. Angst essen auch Körper auf. Angst sind Körper. Ich habe Angst gekaut in allen Garstufen und Konsistenzen: Roh, zäh, hart, weich, schleimig; knusprig auch, wie Chips, die zwischen den Zähnen in tausend Stücke brechen! Gewürzt mit bitterem Mandelkern und einer Kelle Amygdalasoße. Serviert auf schwarzen Traumgedecken für das Angstschlemmern im Schädelgrab. Die nächste Angstportion dünstet bereits und hebt ihre Dämpfe ins Oberstübchen.
Beklemmung köchelt in meiner Brust. Ich will sie nicht, ist der erste Impuls. Der zweite: Ich lasse sie. Ich weiss, allein das Lassen hilft, dann verzieht sie sich von selbst, hadernd manchmal, mürrisch oft, aber sie verzieht sich. Ankämpfen, eine Spielart der Flucht, ein Beharren auf Selbstverlust. Die Empfindsamkeit spielt nicht mit, seit sie mir wieder eigen ist. Toll! (°;°), höre ich Straßenjunge spötteln, der Kumpel aus alten Tagen, der mit der unverblümten Sprache, die manchmal ziemlich platt. Wer sagt, dass sie nicht auch etwas Wahres sagen kann. Ich nicht.
Der Mund des Fremden. Dieses kurze bittere Pressen der Lippen, als sei Leid darin verdichtet. Fest steht, dieser Mann ist nicht mein Opa (das ist beruhigend). Der Opa meiner Kindheit war gut zu mir. Der Opa meiner Kindheit ist lange tot. Wie lange eigentlich? Dreißig Jahre? Eher vierzig. Ich weiss es nicht genau, ich habe die Jahre nie gezählt. Er war immer nur ein Opa meiner Kindheit und als er tot war, so kommt es mir, war nur meine Oma traurig. Was war mit meinen Eltern? Deren Verlogenheit musste die Oma plötzlich ohne ihren Mann ertragen. Auf meinen Vater, ihr einziger Sohn, war kein Verlass. Auf seine Frau, meine Mutter, erst recht nicht.
Meine Mutter. Eine haltlose Frau, über die meine Oma kein gutes Wort verlor. Die nur fürs Putzen und Kinderkriegen gut sei. Nicht einmal schreiben könne sie! Katholikin noch dazu! Falsch und verlogen, wie alle Katholiken. Eingedrungen sei sie in den Frieden der Familie! So schimpfte die Oma, die sich oft genug betrogen sah. Geliehenes Geld sah sie nie zurück. Ich erinnere ihre bitteren Lippen, ihre dunkelbraunen Augen, Rettungsinseln meiner Kindheit. Sie ist der einzige Menschen, deren Augenfarbe ich nicht vergessen habe, deutlich sehe ich sie vor meinen Augen. Ich schaue hoch und sehe es mich tun: Brief wegstecken, Auto starten und losfahren mit Angst in Arial.
Ich bin unschlüssig, weiss nicht, ob ich stehen oder sitzen, ob ich Wasser oder Kaffee trinken will, ob ich einfach weitermache wie bisher oder endlich einen Stift in die Hand nehme. Vertraute Unschlüssigkeit. Immer mit der Ruhe, denke ich und mache mir einen doppelten Espresso. Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf die Crema, die süffig über die Zunge läuft. Sekundenmeditation mit versöhnlichen Bitterstoffen aus dunkler Schokolade, mich beruhigen und mit dem warmen Gesöff meine Zweifel schlucken. Noch bevor ich es weiss, ist die Entscheidung gefallen. Ich werde das "Spiel" mitspielen. Der Typ wird seinen Text bekommen und beim nächsten Treffen werde ich vorbereitet sein und hartnäckig meine Fragen stellen. Schwungvoll drehe ich das Glas mit dem Rest Espresso, damit sich die Crema von der Glaswand löst und sich versöhnlich auf das Schwarz des Kaffees legt. Endlich setze ich mich, schaue nach Draußen. Ich habe drei Fenster, die die Breite des Raums markieren, in dem ich esse, wohne und arbeite. Ein seltsamer Himmel heute, auf dem ersten Blick wie Milch, die sich weit ergossen hat, als wäre Gott ungeschickt gewesen. Ich sehe kaum wahrnehmbare Verläufe und hoch oben zwei Rotmilane. Erstaunlich schnell entfernen sie sich in gleitenden Spiralen von mir weg und verschwinden im Himmel, der wieder ein anderer ist: Ein vergossener Milchshake aus grauen Früchten. Ich schaue auf den Briefumschlag, der bereits leicht verknittert ist und nach wie vor keinen weiteren Hinweis enthält. Nicht einmal einen Kaffeefleck!
Ich lache, weil ich eine Gewissheit habe. Ich habe sonst keine Gewissheiten, aber eine habe ich: Die Angst vor dem Tod wie ein aufspringendes Schnappmesser im Kopf, die kann mir nichts mehr anhaben. Angst vor dem Sterben, wer hat sie nicht. Angst vor plötzlichem Mannstod, ich nicht mehr.
Suche dir eine aus, eine Nacht, sage ich dem Angstkalmar, schiesse auf aus Tiefseeträumen, mache Chaoswirbel im seekranken Kopf, ziehe ihn ins Wasserdunkel bis alle Luft vergeben; sensationiere den Körper nach allen Regeln der Panikkunst. Und? Die Angst macht mir keine Angst mehr; selbst die Angst der tiefen Nacht zieht die Arschkarte. Sie hat verloren; ich habe sie ertränkt im Weinebad; das war kein Wellness für die Seele.

Als kleines Kind hatte ich erstickend Schreien müssen, ohne zu wissen, was der Tod ist. Ich hatte noch keinen Verstand. Ich war in dunkelster Angst, die bis heute ihr Eigenleben führt. Aber ich habe sie durchschaut. Immerhin. Ich erkannte die Einsamkeit des Kindes, die in Kellern und Winkeln Ungeheuer, im Dämmerlicht und unter Betten Monster schuf. Ich erkannte die Einsamkeit der langen Jahre, die böse Gestalten und vage Bedrohungen lebendig werden und über Nacht und Tagtraum hinaus weiterleben ließen. Ich habe sie in Worte gebannt.
°_! : Bravo! Wurde auch Zeit! (Straßenjunge wieder). Die Zeiten des Bullemanns und Schornsteinfegers, die dich holen und bestrafen würden, sind schließlich vorbei, sind nur noch wie ein Hauchen der Erinnerung. Der Gewalt der Sprache bist du längst nicht mehr ausgeliefert. Weit entfernt bist du von der großkotzigen Sprachlosigkeit der Kriegsgeschädigten, die ihre Traumata nie zu be!greifen in der Lage – waren.
Der Lieblingsonkel, der Freizeitsadist, der lange tot, der spukt in meinem dösigen Kopf herum. Uns Neffen kitzelte er, bis uns die Luft wegblieb, bis uns die Tränen kamen, danach sein Spott. Er spendierte manche Mark, auf die wir hofften! Er gab die Münze nicht, er warf sie, wie man Futter ins Gehege wirft.
Gehege. Ein harmloses Wort. Von wegen! Synapsen zittern, Nacken und Schultern machen auf ganz hart. Der Körper gibt alles, nachtragend wie er ist. Versöhnung sieht schwarz. Na und! Ich werfe dem Körper Erinnerungen vor die harte Haut, so beruhigt er sich wieder. Der Kopf ist für was gut.
Ausflug im Wildpark, du warst zarte Fünf oder schon gehärtete Sechs, du warst unterwegs mit Onkel, Tante, Eltern und drei Geschwistern. Vielleicht warst du etwas vorlaut, vielleicht verlangtest du ein Eis, vielleicht standest du auch nur da und wolltest über den Zaun schauen, verlangtest Teilhabe, die Du erkämpfen musstest. Dein schlaksiger Onkel nahm dich unter die Arme, hielt dich über den Abgrund, der mit krachender Tiefe drohte. Er lachte dir an den Hinterkopf und drehte dich riskant, um dein erschrockenes Gesicht zu geniessen. Er liess dich nicht fallen, aber du fielst, tief im Kopf, lange noch danach. Deine Mutter sagte, jetzt ist’s gut, dein Vater war schon weiter; Richtung Erfrischungsbude, ein Bier war fällig. Zur Kühlung des Schocks gab es Eis. Deine verhaltene Freude war ihnen auch nicht recht. Undankbares Kind! — Das war die Zeit.
Wir wohnten damals in einer alten Schule; in einem Klassenzimmer. Die ausgediente Grundschule diente als Notunterkunft für Familien mit vielen Kindern. Wie alle Familien, die dort wohnten, fanden sie keine Wohnung. Mehr als zwei Kinder waren verdächtig. Die Babys boomten und der Wohnraum kam nicht nach. Als wir in die Schule zogen, hatte ich noch vier Monate bis zur Einschulung. Langweilig wurde mir nicht. Ich war immer draußen. Alles um mich herum war ein riesiger Abenteuerspielplatz. Die größeren Kinder, wild, gemein und mit dreckigen Gesichtern, führten mich ein. Wenn sie aufbrachen, um die Gegend zu erkunden, um früher oder später irgendeinen Mist zu bauen, ging ich einfach mit, auch wenn sie mich anfangs loswerden wollten. Sie erzählten gefährliche Geschichten, die in meiner Welt zu fatalen wurden. Auf einer Müllkippe in der Nähe überfielen sie einen Berg Elektroschrott und ein Junge zeigte auf eine große Platine, auf dem Kondensatoren sassen so fett wie kleine Bomben. Es roch nach verstaubten Röhrenradios und kaltem Brand. Der große Junge sagte, pass auf, die explodieren! Als ich erschrocken zurückwich, lachten sie wie böse Hasen mit hämischen Gesichtern.
In der Nähe gab es einen Schrebergarten. Dort trieb ich mich oft herum. Ich spielte auf einem Platz, von dem die Wege zu den Parzellen abgingen. Plötzlich steuerte eine Libelle auf mich zu. Ich hörte ihre Flügel brummen. Ich war nicht fähig, einen Schritt zu gehen. Ich erstarrte. Blitzschnell bog die Libelle ab und umkreiste mich. Wenn sie mich sticht, bin ich tot. Wenn sie mich sticht, bin ich tot! Sie flog unberechenbar und die Zeit wurde zur Ewigkeit. Als sie plötzlich verschwunden, wagte ich mich noch nicht weg. Dann lief ich endlich zur Straße und sah mich immer wieder um. Ausser Atem erreichte ich das große Treppenhaus der Schule, in das eine schmale Tür führte. Von oben hallten Stimmen herunter. Verwirrt stand ich in dem großen kühlen Raum. Einer der Jungen hatte gesagt: Libellen stechen, dann stirbt man! Wirklich! Frag die Anderen! Ich fragte nicht, ich glaubte es.
Ich war seit knapp drei Wochen eingeschult gewesen, als ich das erste Mal die Schule wechseln musste. Müllkippen und Schrebergärten, Keller und Dachböden waren plötzlich verschwunden. Die neue Wohnung lag an einer viel befahrenen Straße, schräg gegenüber ein Parkplatz für LKWs, die schwere Ringe aus Stahl abholten. Neben dem verrußten Backsteinhaus, in das wir einzogen, eine große Wiese, auf der mittig ein verdorrter Baum stand, grau und kahl. Die Wiese wurde für ein paar Jahre unser Spielplatz für zwischendurch. Einen Plastikball mit Picke vor sich her treten, bis er auf die Straße rollte und kaputtgefahren wurde. Ameisen mit Steinen in den Staub drücken und hoffen, dass Gott das nicht sieht. Um die Wette laufen, wer zuerst den toten Baum erreicht. Der Baum war mir unheimlich, ich mied ihn, wenn es keiner sah.
In der neuen Schule fand ich keinen Anschluß. Ich stand mit verschränkten Armen und schaute trotzig mit leicht geneigtem Kopf dem Geschehen entgegen. Einem Tier von Kind, eine Schulter breiter und einen Kopf größer als ich, gefiel das nicht und es begann, mich zu hänseln; bis ich meine Wut auspackte. Ich rammte den Kopf in den Bauch. Da hatte er einen Heizkörper im Rücken und rang erstaunt nach Luft. Danach ließ er mich in Ruhe. Freunde gewann ich auch später nicht auf dieser Schule. Stattdessen kam noch ein Bruder dazu, so dass ich plötzlich drei davon hatte. Zum Glück war in der Wohnung mehr Platz als im Klassenzimmer der alten Schule. Wir hatten wieder ein Wohnzimmer, dass mir in guter Erinnerung bleiben sollte. Dort bekam ich zur Weihnachtszeit eine Ohrfeige, die knallt noch heute in meinem Kopf. Kein Wunder, lag darin die ganze Wut der Mutter. Mein Bruder, ein Jahr nach mir gekommen, bekam das Geschenk, das ich mir sehnlich gewünscht hatte: Eine Loopingbahn für jene kleinen Metallautos, die viele Jahre auf der Jagd nach Bösewichten und auf der Flucht vor Familienzwist meine Retter waren, wenn ich mich, den Kopf auf dem Arm, am Boden verkrümelt hatte und leise scharfe Kurven fuhr. Ich protestierte gegen das gebrochene Versprechen und packte nur widerwillig mein Geschenk aus. Ich ahnte die Enttäuschung.
Auch die Küche war ein besonderer Raum. Wir badeten dort am Wochenende in einer Zinkwanne, vier Kinder in einem Rutsch. Wenn wir uns dort lauthals stritten, dauerte es nicht lange und meine Mutter verlor verläßlich die Nerven. Als Erstgeborener war ich für sie grundsätzlich der Schuldige. Dann schrie sie wütend auf, kam wie eine Furie auf mich zu und drosch ein mit Kochlöffel, Gürtel oder flacher Hand. Als ich auf die Neun zuging, fing ich an, Fluchtwege vorauszudenken. Als ich auf die Zehn zuging, entwischte ich flink ihren Schlägen. Ich tauchte ab unter dem Küchentisch, um von dort zur Tür zu rennen, die zum rettenden Treppenhaus führte. Die Haustür unten war aus schwerem Holz und hatte ein blindes Fenster mit einem Metallgitter davor. Ich zog sie mit Kraft auf und drehte mich noch einmal um. Oben stand meine Mutter und drohte mit dem Vater, längst nicht mehr so laut. Ich sprang flink über zwei Steintreppen ins Lärmen des Verkehrs und überließ mich dem Tagtraum, irgendwohin abzuhauen.
Kurz bevor wir aus dem Haus ausziehen mussten, es sollte abgerissen werden, bekamen wir einen Fernseher. Er sedierte die Familie. Streit und Neid im Geschwisterleben wurden weniger, schneller vergessen als vorher. Vor dem Fernseher herrschte Frieden, keiner sprach, alle waren gebannt.
In diesen Jahren träumte ich viel. Ich war kurz vor dem Ertrinken oft. Ich stürzte tief, ohne zu zerschmettern. Ich landete sanft, wie durch ein Wunder. Immer. Ich erinnere diese Träume deutlicher und schärfer als Erinnerungen, die lange sehr präsent waren, dann aber verblassten, sich abnutzten, zu privaten Klischees wurden oder ins Vergessen fielen. Eine Handvoll Träume blieben, als wollten sie all meine Zeit auf der Erde überstehen, als seien sie Bilder in Bernstein. Oft schwebte ich über Landschaften. Aus eigener Kraft überwand ich die Schwerkraft. Ich bewegte die Arme beharrlich auf und ab, hoch konzentriert, bis ich langsam abhob. Zentimeter für Zentimeter. War ich Baumkronen und Laternen nah, schwebte ich über kleine Häuser und wich Stromleitungen aus. Allein der Glaube hielt mich oben. Selbst im Traum wusste ich, dass ich keine Gewissheit haben könne, oben zu bleiben. Ich blieb oben und staunte im Traum darüber. Nach dem Aufwachen nahm ich mir vor, das draussen jemandem zu zeigen, ohne zu wissen, wem. Manchmal flog ich schnell und gefährlich nah der Bürgersteige und Straßen. In Landschaften hinein, über Wiesen und Teiche, durch Schilf und Gebüsch, durch Lichtgewebe zwischen Bäumen. Die Träume waren meine Freunde, auch wenn mir manchmal die Luft wegblieb. Über die Jahre wurden sie dunkler, unterwandert von bodenloser Angst. Steigendes Wasser, immer höher, Flucht bis aufs Dach, das Haus sah aus wie die Bonanza-Ranch. Mit Wasser bis zum Hals erwachte ich.
Einige Monate vor Abschluss der Grundschule stand wieder der Umzugswagen vor der Tür. Der Fortschritt duldete keinen Aufschub und wir zogen in eine städtische Wohnunterkunft. Lohnpfändungen ließen uns keine andere Wahl.
Schlechte Nacht gehabt. Träume? Fehlanzeige. Dafür Kopfschmerzen, ein harter Nacken zerrt am Hinterkopf. Das ignoriere ich und mache mein Programm: Den Rest von gestern wegspülen, Tee aufsetzen, Dehn- und Kraftgezappel gegen den unaufhaltsamen Rost im Körper. Die Devices, die mich scheinbar aber ständig mit der Welt da draussen verbinden, lasse ich liegen. Ich bin häufig offline in letzter Zeit. Ein Kunststück in meinem Beruf. Ohne ständigen Input bin ich aufmerksamer, konzentrierter. Die Tage kommen mir länger vor, vielleicht weil ich mehr wahrnehme von dem um mich herum. Ich bin insgesamt zufriedener, das soll was heißen. Ab und zu öffne ich Ecosia, wenn ich etwas wissen will. Emails nur Vormittags und zuletzt am frühen Abend. Einmal am Tag schaue ich in die Zeitungsapp. Ich überfliege die Artikel nicht, ich lese sie. Nur für Kunden rufe ich soziale Netzwerke auf. Wenn ich die Trends auf Twitter lese, bekomme ich Schüttelfrost. Ich erinnere ich mich an mein exzessives Twittern für Fridays for Future, die jungen Leute wollte ich einfach unterstützen. Eine Wohltat ihr Protest. Nach einigen Wochen spürte ich erneut die Sucht nach dem Wahrgenommenwerden. Weitere Wochen später war ich Bubble und nah dem Empörungsmodus, musste mich beherrschen, um sachlich und zurückhaltend zu bleiben. Ich glitt ab in einen Zwang der Meinungsmitteilung, der mein Denken fragmentierte. Die Gedanken versickerten in Reflexe und Impulse, das Lesen wurde auch nicht besser. Meinungen aus den anderen Lagern wurden zur Gefahr für meine fragile Device-Identität. Ich merkte nicht, wie ich mich ins Gesinnungsgefängnis einsperrte. Ich spürte das schale Unwohlsein einer selbst gewählten Entwürdigung, immer dann, wenn es mir schwerfiel, mich zu entziehen. Dann holte ich noch in der Nacht das Tablet hervor, um meinem drängenden Belohnungssystem einen Schuss zu geben. Blieb der aus, weil keiner mehr reagiert hatte, tat ich so, als ob nichts wäre. Doch mit jedem Abruf ohne Notifications wuchs der Frust, Zweifelzombies untergruben mein Selbstbewusstsein. Beleidigtsein verbot ich mir, stattdessen erhöhte ich mein Postingtempo. An manchen Tagen konnte ich kaum einen Gedanken ohne Twitter denken. Wenn ich aufblickte, dann mit steifen Hals. Nach vielen Stunden bis in die Nacht fühlte ich mich müde und leer. Ausgesaugt wie ein Wassereis für 50 Cent. Permanentes Meinungsrauschen und unablässige Infohäppchen nahm ich für bare Münze und nicht als Abklatsch vom Abklatsch der Wirklichkeit. Ich verwechselte Tweets und Retweets mit Erfahrung und Wissen. Interaktion, von wegen! Die ist ein Witz, wir haben nur noch nicht gelacht. Das Display ist flach im wahrsten Sinne des Wortes. Es gibt aus sinnlicher Sicht nur Abwärme ab, egal was auf ihm zu sehen und zu lesen ist. Seine Virtualität führt zur Verarmung der Erfahrung, verhindert Menschwerdung, die die Nähe zum Menschen braucht. Das alles geschieht schleichend, sehr schleichend, so kommt es mir vor.
Nicht nur Twitter suggerierte mir Lebendigkeit. Vor gut fünf Jahren „verliebte” ich mich über eine Dating-App in eine Frau (dieser Satz allein!). Sie war unterversorgt wie ich. Sie wohnte einige hundert Kilometer nördlich von mir. Das erste Treffen war erst nach drei Wochen möglich, weil sie noch im Urlaub war. In der letzten Woche vor unserem Date schürten wir unsere Erwartungen und Wünsche von Morgens bis Abends. Einmal machten wir Facetime. Wir waren befangen, aber atmeten beide auf, da wir uns gefielen. Wir gestanden uns das Heißsein ein. In meinem Bauch zuckten rattige Wesen, die mir unheimlich wurden. Wir geilten uns im Vorfeld auf. Wir machten erste Pläne für die Zukunft. Dass mir ihre Stimme nicht gefiel, ignorierte ich. Als wir uns trafen, stichelte uns die Dreidimensionalität der Wirklichkeit. Sie zeigte uns die Macht der Präsenz, der Gesten, der Gewohnheiten, der Erwartungen. Sie zeigte uns die Dynamik des Spiegelns, wenn man in den Alltag eines fremden Lebens eindringt und Liebe sucht. Scheitergarantie auf hohem Niveau. Die Ernüchterung und das Befremden trafen uns hart. Auch wenn wir es schnell ins Bett schafften, wir wollten die gestrafte Illusion nicht wahrhaben, stattdessen herrschte Double Bind. Wir trafen uns noch über Monate, aber wir blieben uns fremd. Wir sahen uns nicht im Anderen, ausser manchmal im Begehren. Ihr reichte das, mir nicht.
Als ich täglich auf Twitter war, sah ich keine echten Menschen, sie waren und blieben Fremde. Fremde, die sich gegenseitig einreden, sie würden gemocht und gebraucht. So laufen die Postings immer weiter. Meine Postings waren keine Taten. Sie waren Ersatzhandlungen (für was?), sie waren gehetztes Schreiben, sie waren Worte, die immer nur auf mich selbst zeigten, wie ein Spiegel, der in den Spiegel schaut. Wieviel Leid, Elend, Hass, Dummheit ich auch sah, es waren immer entsinnlichte Bilder, ohne menschliche Ausstrahlung, ohne Körperlichkeit. Bunte Pixel, die Millionen Bilder und Meinungen ausstrahlen. Sie brauchen dafür nur viel Energie, sie binden viel menschliche Energie. Deshalb sind sie so mächtig. Sie locken unentwegt, keine Atempause. Sie zementieren Machtverhältnisse und machen Gesellschaften nicht freier. Letzteres war eine Illusion, an die ich glaubte, da waren die sozialen Medien noch nicht erfunden. Menschlicher werden wir nur von Mensch zu Mensch zu Mensch zu Mensch. Die beschleunigte Beliebigkeit der Empörung entfremdet uns vor dem Leid. Jeden Tag dringt die Wirkungslosigkeit unserer Passivität in uns ein. Das Medium als trojanisches Pferd der Seele.
Ich weiß für mich, Empörung ist kein Mitfühlen. Empörung verhindert sie. Der Dauerbeschuss der Displays macht stumpf und gleichgültig. Schleichend entfremdet er uns vor dem Mitmenschen, hält uns fern von menschlicher Wärme, die wir dringend brauchen. Glücklich die, die nicht einsam sind und denen ein empathisches Ich geglückt ist, die können sich jederzeit entziehen. Ein Zufall ist das nicht, dass Verachtung und Hass auftrumpfen und sich gegenseitig verstärken, was die Gesellschaft mehr und mehr beschädigt. Ich weiss, dass soziale Netzwerke nicht für die Armutsschere und nicht für eine lebensfeindliche Politik verantwortlich sind. In den Netzwerken spiegelt sich nur die Unzufriedenheit, die jahrzehntelange Lobbypolitik zu verantworten hat. Gut jetzt! Jedenfalls meide, blocke und verachte ich Facebook. Wer Facebook will, ohne mich. Whatsapp hatte ich einmal kurz genutzt. Als der große Zockerberg den Messenger geschluckt hatte, drängte ich Familie und Freunde zu einem kleineren „Nachrichtendienst”, der nicht alles aushorcht, was wir digital machen. Es gab Gemecker, aber der Großteil meiner heterogenen Familie wunderte sich, wie einfach und schnell die neue App startklar war. Ich nicht mehr.
Ich nehme mein Smartphone vom Ladekabel und gehe aus dem Flugmodus (haha). Meine zwei Messenger schweigen. Keine Enttäuschung. Ich lege den Glasstein weg und freue mich auf den ersten Kaffee. Beim Nippen fällt mir der Brief wieder ein. Am Freitag ist der Fremde aufgetaucht. Heute ist Dienstag. Vier Tage wie im Flug vorbei, aber ich saß gut. Ich öffne meinen Kalender, um mir den Tag einzutragen, an dem er erscheinen will. Bei jedem Wetter. Ob der mitbekommen hat, dass das Wetter immer toller wird? Wenn es richtig schüttet, kann der lange auf mich warten. Um 11 Uhr. Wie er das gesagt hat! Als ob die Uhrzeit unbedingt einzuhalten wäre.
Der Brief. Wo ist er? Ich suche ihn verärgert und finde ihn nicht. Vielleicht ist er im Auto, denke ich und setze mich. Was will ich jetzt mit ihm, frage ich, Arbeit steht an. Schließlich muss ich mich finanzieren. Zudem drängt ein Kunde, ich spüre das, ich bin telepathisch talentiert. Doch ich bewege mich nicht vom Fleck, der Körper verharrt in Trägheit, was der Kopf auch immer beschliesst. Dieser Wandelkopf: Impulsiv wie ein Quasar und genauso unerreichbar! Ich lasse den Schreibtisch links liegen, klebe am Küchentisch und öffne die Kladde. Ich gucke mit dem Hadergefühl der Unlust auf das karierte Papier. Plötzlich empfindet mich etwas an. Traumschnipsel? Was will Gedanke werden, weigert sich und bleibt im Vagen? Es ist ein häßliches Huschen aus rotblauem Chaos. Das erinnert mich an Träume, aus denen ich mit stroboskopischen Bildern erwachte, in denen zerfetztes Gewebe aufblitzte. Vor kurzen dachte ich, dass diese Träume mit meinen Unfällen zu tun hätten. Ich werde unruhig. Gleich wird eine Kaskade von Erinnerungen meinen Drehbleistift übers Papier flitzen lassen. Die Unfälle. Als ich sechzehn war, der erste. Knapp zwei Jahre später, der zweite. Die waren nicht ohne.
Die Unfälle sind bis heute nur am Rande in meinem Portfolio vermeintlicher Angsturgründe aufgetaucht. Obwohl, das stimmt nicht ganz. Der zweite Unfall kam mir oft in den Sinn, immer dann, wenn mich hypochondrische Überzeugungen überfielen, fies angefeuert durch Zucken und Ziehen am Kopf. Ziehende Kopfhaut und pochende Schläfen waren die Boten eines Hirnschlags, der gleich kommen würde. Zog es nicht bereits im Arm? War nicht auch im Bein ein hinterhältiges Kribbeln, um den Tod anzukündigen, der noch einmal Spaß haben wollte, bevor ich schlotternd unter laufender Dusche urplötzlich verstarb? Als Spätfolge des alten Unfalls!
Damals kam ich von der Arbeit mit dem Fahrrad. Ich war Auszubildender im zweiten Lehrjahr. Ich arbeitete als angehender Elektroinstallateur bei einer Firma, die mehr Stifte als Gesellen hatte (vielleicht komme ich auf diese Zeit zurück). Strippenzieher mit nem Kurzen inna Hose, war mit das erste, was ich lernte. Viele Lehrlinge arbeiteten auf weit gelegenen Baustellen. Ich blieb keine Ausnahme. So war ich nicht selten erst nach 17 Uhr auf dem Hof zurück. Ich musste danach noch quer durch die Stadt fahren, die nicht gerade klein ist. Auf den Rückweg gab es einige Anstiege. Einen hasste ich besonders. Er zog sich lang hin und zweispurig eilten Autos an mir vorbei. An dem Tag war das Wetter nass, die Luft lag in einer Diesigkeit aus dreißig Prozent schwarz. Wütend beschleunigte ich meinen Tritt, denn ich wusste, gleich kommt die Stelle, auf der Autos in Schüben von einer langgezogenen Autobahnabfahrt kommen. Dann lag ich in der Luft! Sah Grau in Grau und dachte gleichgültig: Das wars, auf Wiedersehen Sonne! Tatsächlich, das weiss ich noch, ich verabschiedete mich von der Sonne. Wie nett. Ich wusste bis dahin gar nicht, dass ich ihre Dienste dermassen zu schätzen wusste. Obwohl, seit dem Tag, als meine herzensgute Hauptschullehrerin uns mit Beginn des fünften Schuljahrs zur Stadtbücherei des Stadtteils schleppte, interessierte ich mich für Astronomie. Ich entdeckte einen Bildband, der populär postiert war und meldet mich am gleichen Tag an. Das sollte nicht mein Nachteil werden, aber das ist eine andere Geschichte. (Manchmal dreht der Assoziationspapagei mit ihm durch!, höre ich aus dem Kabuff, in dem Straßenjunge hockt.) In dieser Sekunde, in der ich in der Luft lag, nahm ich Abschied vom Leben und spürte keine Angst dabei. So habe ich das bisher immer erzählt. Jetzt grad weiss ich nicht, ob das wirklich so wahr. Das war einfach der Schock! Jedenfalls holte mich ein harter Aufprall auf die Erde zurück. Ich fiel rücklings auf das Blechbett eines Autos, das auch Türkenschiff genannt wurde. Die lange Motorhaube federte mich ab. Mein Hinterkopf schlug die Windschutzscheibe kaputt. Bruce Lee wäre vor Neid erblasst. Noch heute sehe ich das gerissene Glas, die Vertiefung, in der mein Kopf für eine Zehntelsekunde lag. Ich rollte von der Motorhaube, blieb kurz benommen liegen und stand wie von der Tarantel gestochen auf. Wie erstarrt schaute ich mir das Auto an, auf dem ich gefallen war, der Fahrer sass noch im Wagen. Autos hielten, Menschen stiegen aus, aber alles schien mir weit entfernt. Ich nahm die Leute gar nicht wahr, die zu mir kamen und seltsam auf Abstand blieben. Ich nur sah mein Fahrrad. Weit lag es, an den Straßenrand geschleudert. Ich ging die Meter und ich bückte mich zum Fahrrad. Ich hob es kurz hoch und ließ es fallen. Das Hinterrad geschrottet, keine Chance mehr, damit weiterzufahren. Erst jetzt bemerkte ich das Zittern meiner Beine, das Flattern meines Atems. Dann sah ich den Mann, der mich fast tot gefahren hatte. Er kam zögernd auf mich zu mit hilflosen Gesten. Im feisten Gesicht mit dem dicken Schnäuzer sass Schrecken. Mein Fahrrad, sagte ich nur. Bezahlt Versicherung, sagte der Mann und bewegte seine Arme hilflos auf und ab. Eine Frau kam auf mich zu. Blond, das weiss ich noch. Sehr besorgt, das sehe ich noch. Sie legte ihre Hand auf meinen Oberarm und sah mir ins Gesicht, fragte, ob ich in Ordnung sei, sagte, dass sie einen Riesenschreck bekommen habe. Ob ich einen Krankenwagen brauche? Ich schüttelte den Kopf. Ich schien mir unverletzt. Kein Blut nirgends. Irgendwann war auch die Polizei da. Ich wurde befragt, gab meine Adresse und dachte immer nur an mein Fahrrad mit dem zerstörten Hinterrad. Zerstört hätte auch mein Hinterkopf sein können. Die Polizisten fragten mehrere Male, ob ich nicht doch ins Krankenhaus wolle, um mich untersuchen zu lassen, vielleicht habe ich eine Gehirnerschütterung, ob mir übel sei. Ich schüttelte wie zur Bestätigung den Kopf. Dabei fielen mir Onkel und Tante ein, die in der Nähe wohnten. Dort würde ich hingehen. Nachdem alles protokolliert war, nahm ich das Rad über die Schulter und ging schnurstracks über das anliegende Feld. Froh war ich, endlich allein zu sein. Was ich mitnahm an diesem Tag, das war der Schock, der Schock, der auf Hals und Nacken lag. Erst jetzt begreife ich, dass er tief ins Hirn gekrochen war und eine Unzahl Tretmienen gelegt hatte, die bei Stress, die bei einem falschen Gedanken, sei er auch noch so unscheinbar, explodierten, immer mal wieder explodierten. Die gute Nachricht: Das ist vorbei. Definitiv! Wurde auch Zeit. Irgendwann im Leben muss man schließlich die Kurve kriegen, will man sein altes Elend nicht noch mit ins Grab nehmen.
Der Unfall zuvor. Ein Unfall, der aufs Ganze ging und mich beinahe Hopps genommen, mich beinahe zurückgeschleudert hätte ins Reich der Atome. Dafür reichte Einer, einer, der mit einem ausgeprägten Archloch-Gen auf die Welt gekommen war und deshalb auch niemals aus seinem Arschloch-Sein herauskam. Einer, der meinte, mit entzogenem Führerschein und mit unangemeldetem Auto in den engen Straßen der Siedlung den Autohelden spielen zu müssen, kurvenschneidend ohne Übersicht ab in die Stichstraße hinein. Bremsen kann man immer noch. Ich sass zuvor noch auf der Mofa. Von dem langen Zugangsbalkon, die zu den Türen der Wohnungen führten, rief meine Mutter mich zum Essen. Es war Mittags, Sylvester, fast ein Tag wie jeder andere. Und wie an einem Tag wie jeder andere, sagte ich, ich komme gleich und ignorierte das Zetern der Mutter. Ich beugte mich über den schnatternden Motor meiner Herkules, die ich vor Monaten fast ruiniert hatte, weil ich in einem Scharfsinnsanfall meinte, ich könne sie frisieren, in dem ich das Benzin-Zugangsloch zum Luft-Gasgemisch etwas vergrößere, mit dem Ergebnis, dass ich danach bei jedem Stopp den Benzinhebel zudrehen musste, weil sonst dasselbe aus dem Vergaser getröpfelt wäre. Wahrscheinlich war an diesem Tag einfach zu viel Luftgasgemisch in meinem Kopf, das schlagartig entwich, als ich meinen Fehler begriff. Hinzu kam, dass ich dieses Loch nicht mit einem Metallbohrer aufbohrte, sondern grob mit einem kantigen Dorn malträtierte, was zu häßlichen Kerben führte, die jede Dichtung ad absurdum führte. So beugte ich mich oft, sitzend auf der Mofa, zum laufenden Motor, hoffte durch dringliche Blicke Heilwirkungen zu erzeugen und suchte hörbare Zeichen der Besserung, während ich wie ein Besengter am Gas drehte. So auch an diesem Tag. Als ich eine Versöhnungsrunde um die Häuserblöcke fahren wollte, erfasste mich das Auto des Arschlochs. Das brach mir einen Oberschenkel glatt und den Unterschenkelknochen gleich mit. Nahe dem Knöchel. Wenn schon, denn schon. Danach lag ich auf nassem Asphalt, geschleudert bis zur anderen Seite der Straße und blieb liegen nahe der Bordsteinkante, über mir dunkelgrünes Gezweig. — Krüppel! Krüppel! Für immer Krüppel, wimmerte ich, umgeben von ersten neugierigen Blicken und aufgeregtem Getuschel. Ich starrte auf mein zerstörtes Bein, das Bein, das kein Bein mehr war, das willenlos und mit abgeknickten Fuß da lag. Der Unfall sprach sich schnell herum, immer mehr Leute kamen, die halbe Siedlung schien unterwegs zu sein. Endlich kam auch meine Mutter, mein Vater hinterher. Es war Samstag, er war an diesem Tag nicht arbeiten. Viel erinnere ich nicht. Entfernt sehe ich mich im Krankenwagen, mein Vater fuhr mit. Meine schmale Hand zwischen seinen rauen, dicken Fingern, das fühlte sich fremd an und tat mir zugleich gut.
Gerne hätte ich mich beim Chefarschloch bedankt. Für die vierstündige Operation, für die einskommafünf Liter Blutverlust, für die zwei langen Stangen, die man mir durchs Knochenmark schlug, für den zerquetschten Beinnerv, für die Lungenentzüdung nach der Operation, für die fünf Tage auf der Intensivstation, für die neun Wochen im Bett mit Gips bis zur Hüfte. Aber er kam nicht. Auf der Intensivstation hörte ich das Feuerwerk der Stadt und sah durch einen Schleier eine Blutkonserve hängen. Ein Traumbild, von dem aus ich schnell wieder in einen fiebrigen Schlaf fiel. Später sah ich mir den langen Raum genauer an, Bett an Bett. Neben mir ein Mann, der auf den Tod wartete. Ich sah einen Schlauch in seinem Kopf. Nur einmal stöhnte er. Er starb einige Tage später. Die Lücke zum nächsten Bett, die er hinterliess, erschien mir wie mein eigener Abgrund. Immer war es still in diesen fünf Tagen im Winter 1977.
Was ist jetzt?! Klar ist das traurig! Aber muss ich über vierzig Jahre später darüber heulen? Es ist nie zu spät. Ich habe immer unbedarft darüber erzählt, als wäre es gar nicht mir passiert.
Regelmäßig musste ich Dämpfe einatmen. Das war eine willkommene Abwechslung. Mein größter Feind war die Uhr an der Wand vor meinem Bett, gleichgültig dehnte sie die Zeit und die Tage waren elend lang. Einmal besuchte mich meine Mutter. Unsicher sass sie da mit gequältem Gesicht, als liege sie hier und nicht ich. Ich mache ja Sachen, sagte sie, ich mache ja Sachen. Hätte ich doch gehört, sagte sie.
Zwei oder drei Jahre später traf in den Arzt, der mich operiert hatte. Zufällig kam ich in seine Praxis, die er noch nicht lange hatte. Ich brauchte einen Persilschein für die Bundeswehr. Durch den Unfall war mein linkes Bein verkürzt und ich hoffte auf einen hohen Untauglichkeitsgrad. Der Arzt erkannte mich wieder. Erfreut begrüßte er mich und erzählte mir von der schwierigen Operation. Als atme er erneut auf, lobte er meine Konstitution. Ich hätte sie ganz schön auf Trab gehalten. Mein Leben habe am seidenen Faden gehangen. Mein Lebenswille habe sie beeindruckt. Dankbar waren sie mir gewesen, als ich durch war. Vier lange Stunden habe die Operation gedauert. Ob ich überhaupt zum Bund wolle? Ich verneinte und bekam das passende Attest. Und heute, wenn ich an die Operation denke? Da imaginiere ich ein Massaker auf dem OP-Tisch. Ich sehe Sägen, Hämmer und Blut. Ich sehe pochendes, offenes Fleisch. Wie in manchen Träumen, in denen chaotisch rotes, blaues, schwarzes aufblitzt, das mir aus dem Kopf quillt und noch kurz nach dem Aufwachen vor meinen Augen tanzt mit animalischem Schrecken. Vielleicht habe ich das Grauen gesehen, als die Betäubung nachliess. Vielleicht war das auch das vermeintliche Trauma, das ich viele Jahre zu begreifen suchte. Vielleicht bin ich einfach nur wieder auf dem Holzweg. Vielleicht ist das letztendlich auch Scheißegal, denn es ist vorbei und ist nicht mehr zu ändern. All die Angst im Körper wird mir bis zu meinem Tode bleiben. Doch seit einigen Jahren gibt es einen Unterschied im Umgang damit. Ich mache mir keine Gedanken mehr und lasse sie toben in der Gewissheit, dass sie sich bald wieder erschöpft haben wird. Ganz von allein.
Zeitsprung. Weil: Einfach so. Oder: Meine Angstbeschau verweigert sich der Chronologie. Mehr noch: Ich will die Erinnerung nicht auf ein Ziel einstimmen. Ich will der Erfahrung keine Logik aufzwingen oder sie mit Sinn aufladen. Ich setze keinen Cent auf Narrative, ich misstraue ihnen.
°_° : Reicht! Erzähl’ einfach weiter jetzt!
Zeitsprung also. 1983. Urlaub in Großbritannien, gefahren bis ins letzte Kaff des schottischen Nordens, genauer, Betty Beach. Zwei Wochen zelten insgesamt, nur einmal nicht, das kam so: Ich war zusammen mit einer Frau, mit der ich seit einem knappen Jahr die freie Liebe versuchte. Ich nenne sie Betty, aber ohne Beach. Betty also, neun Jahre älter als ich, etabliert im Beruf, selbstbewusst auf den ersten und zweiten Blick, szenebekannt. Ich dagegen war seit kurzer Zeit ein Punk und arbeitslos, schüchtern und touristische Aktivitäten nicht gewohnt. Mein letzter Urlaub war eine Kinderverschickung in die Sommerferien gewesen. Arme Familien durften ihre neun bis zwölfjährige Brut für drei Wochen und 25 Mark nach Österreich verschieben. Die Auszeit mit Betty fing längst nicht so gut an, wie mein Kindertrip ins bergenreiche Zillertal. Ich fand den Urlaub schnell zum Kotzen. Die Überfahrt trug wesentlich dazu bei. Und als ich Brighton sah, fragte ich mich, was an diesem Kaff so besonders sei. Ich sah hier noch mehr Spießer als im verhassten Deutschland. Überall Touristen. Breit und behäbig strahlten sie das Selbstverständnis eines verfetteten Glücks aus und suchten zwischen XXL-Tüten und Plastikflaschen, zwischen Beachbummel und Tourifraß das Glück der Erholung. (Und das beschissene Unrecht auf der Welt kümmert Euch gar nicht?! Weit weg von Euch toben imperialistische Kriege! Die jahrhundertalte Ausbeutung unterlegener Regionen nährt unseren Reichtum!) Diese ganzen Sprüche, mißmutig und verächtlich vorgetragen, während Betty sich um alles kümmerte, was unter meiner Würde lag.
Neben der vermeintlichen Gleichgültigkeit und Heuchelei meiner Mitmenschen machten mir auch die kleinen Pflichten und Zumutungen des Urlaubsalltags zu schaffen. Betty wurde mehr und mehr anmassend. So sollte ich tatsächlich einkaufen gehen! Ich! Mit meinem zweieinhalb Worten Englisch! Im Hinterstübchen war mir das peinlich. Betty verriet ich das nicht. Stattdessen weigerte ich mich mit wortkargen Ausreden. Und als Betty weiter darauf bestand, wurde ich wütend. Ich dachte, sie quäle mich absichtlich. Nicht auch noch sie! Ich zog zitternd meine Oberlippe nach oben (so stelle ich mir das vor). Als mir nichts mehr einfiel auf ihre Argumente, ausser ein freundliches Leckmich oder ein träges Kein Bock, kehrte ich ihr den Rücken zu und schwieg die Landschaft an. Das machte Betty wütend. Kindskopf, rief sie, wie ein Pascha verhielte ich mich. Pascha! Ich, der Punk! Pascha war ein Wort, das mich verläßlich reizte und das genauso verläßlich einen Monolog über ihre verlogene Spießigkeit provozierte. Blitzschnell wie ich war im Urteilen, transferierte ich ihre von Macht, Medien und Konsum beherrschten Verhaltensweisen in die großen politischen Zusammenhänge, was sogleich zur moralischen Schuld der Gleichgültigen und Verantwortungslosen führte, die nur und nochmals nur AN SICH DACHTEN! Am Ende trieb Betty nicht nur mein Räsonieren, Schimpfen und Täuschen zum Selbsteinkauf, sondern auch der Hunger. Hunger war ein Zustand, den sie so gut wie gar nicht ertragen konnte, schon bei nahendem Appetit wurde sie nervös. Ich wusste das.
In Verlauf unseres Urlaubs fand ich viel Stoff für kindisches Gezänk, beleidigtes Schweigen und saublöde Kommentare. Betty ließ sich nichts gefallen. Ein ironisches Gesicht war ihre Standardantwort, wenn ich Abwegigkeiten mitteilte. Oft sagte sie wenig, wenn ich politisch räsonierte, was mich still an ihr zweifeln ließ, begleitet von lauten Vorwürfe. Wenn ich sie von meiner hohen Warte verurteilte, konterte sie oft mit einem ironischen Auflachen. Aber wenn es ihr zu bunt wurde, wurde sie laut. In den Jahren unseres Zusammenseins verdichtete Betty ihre Widerrede mit dem Wort Kotzbrocken!
So fuhren wir. Durch ein kaltes England in skrupelloser Thatcherhand. Von Brighton direkt nach London. Sogleich nervte mich wieder der Touri-Trubel. In einem dieser bescheuerten Doppeldeckerbusse wurde mir schlecht, wofür ich Betty verantwortlich machte, weil es ihre Idee gewesen war. Sie musste ja unbedingt darein! Dann kam Wales als wohltuender Abstecher. Nichts als Landschaft und Sonne, aber wenigstens kein Trubel und urige Leute. Dann, als wir nah der schottischen Grenzen waren, passierte es. Betty fuhr und ich war still. Ich hatte nach Abbruch des Zeltes keine Lust zu fahren, was mich wunderte und zugleich erleichterte (ich fuhr ohne Führerschein). Ich schaute aus dem Fenster und die Landschaft zog plötzlich wie graue Schlieren durch mein Hirn. Ein großes Kraftwerk am Horizont. Kühltürme mit dicken Bäuchen, die mir als explodable Bedrohung vorkamen. Dann traf es mich wie ein ungebremstes Senkblei, das durch meinen Kopf schlug und Lunge und Bauch zerfetzte. Hauchend: Mein Kopf! Wimmernd: Mein Herz! Überzeugt: Ich sterbe! Stockender Atem. Angst ohne Kompromisse. Betty blieb ruhig. Sie hielt kurz an und fragte, ob ich etwas trinken wolle. Ich verneinte. Wir könnten ein Hotel nehmen, kam fast unwirklich ihre Stimme. Ich nickte. Der Gedanke an ein Hotel tat mir gut. Ein Bett, ein Raum, vier Wände. Wird man mir das Entsetzen ansehen? Geht das vorbei? Bitte geh vorbei! Da muss vorbeigehen! Betty fuhr weiter, während ich mich auszitterte. Manchmal sah sie zu mir herüber: Ob es ginge? Ja, es ging. Es liess nach. Ich wurde ruhiger. Der Schock wechselte die Farbe und mündete in Fragen, auf die ich keine Antwort wusste: Was war das? Woher kommt das? Kommt das wieder? Im Hotel ging es mir besser, ich konnte eine Kleinigkeit essen. An diesem Abend verteilte ich keine spöttischen Blicke an die Gäste im Speisesaal.
Die Reise wurde etwas friedlicher. Ich wurde umgänglicher, spürte Dankbarkeit, auch Bewunderung kurz, weil Betty so umsichtig geblieben war. Wir zelteten wieder. Auch der Motzkopf tauchte wieder auf, etwas leiser als sonst. In meinem Inneren hatte sich etwas verschoben und in den Tagen nach dem Anfall achtete ich auf kleinste Anzeichen. Ein paar friedliche Tage zwischen rauer Wiesen- und Steinlandschaft mit plötzlich auftauchenden Sanddünenbuchten, in die langsam die Strömungen zweier Meere hineinkrochen, beruhigten mich. Im naheliegenden Dorf begegneten wir einfachen Menschen, an denen ich nichts auszusetzen hatte. Im Gegenteil, ihr verhaltenes Interesse, ihre Einfachheit, ihre gesamte Art gefiel mir. Sie strahlten eine Ruhe aus, die mir sofort zum Vorbild wurde. So wollte ich auch werden. Zudem brachte ich es fertig, ganz allein den kleinen Pub zu betreten, um einen bräunlichen und halbtransparenten Kanister mit Bier auffüllen zu lassen. Ich war überhaupt nicht aufgeregt. Echt nicht! Ich zeigte lieber halbstumm auf den Zapfhahn als ein paar Worte Englisch zu stottern. Ich kam ohne Schamschaden wieder heraus und mit vollen Kanister. Im Zelt feuerten wir mit dem süffigen Bier unsere eh schon kaum auszuhaltende Geilheit an, die verläßlich auch den heftigsten Streit resettete.
Viele Monate später, als wir uns bereits eine Wohnung teilten, wurde Bettys Kinderwunsch dringlicher. Sie ging auf die Zweiunddreißig zu! Ich nahm sie zuerst nicht ernst. Blieb wortkarg im Vagen. Aber ihr Wunsch arbeitete in mir, meine Bedenken behielt ich für mich. Ich spielte auf Zeit und blieb ihr eine Antwort schuldig. Betty hielt das schlecht aus. Sie sah meine Verstörungen nicht. Ich zog mich zunehmend zurück. Sie wurde zusehends nervöser. Eines Tages fiel ich in eine bis dahin nicht gekannte Kraftlosigkeit, die sich langsam angekündigte hatte und mich dann mit einer Wucht erfasste, die mich an meinen Anfall in England erinnerte. Ich saß im Sessel und kam nicht mehr heraus. Ich saß wie unter einer Glasglocke, stumm, zu keiner Bewegung mehr fähig. Erstarrt. Nicht mehr Herr meines Körpers, meines Willens. Den Arm heben, einfach nur heben? Das ging nicht! Von weit her hörte ich Betty, obwohl sie in meiner Nähe war. Ich hörte ihre Bitten, aber sie erreichten mich nicht. Ich sah sie ohne eine Regung von einem Zimmer zum anderen gehen. Sie war verzweifelt. Ich war ihr vollkommen entglitten. Ungewissheit quälte sie. Nur langsam kam ich an diesem Tag aus meinem Eisblock heraus. Spät in der Nacht kroch auf die Couch in meinem Zimmer. In den Monaten darauf ließ mich ein unbekanntes Bedrohungsgefühl nicht mehr los. In den Nächten ertrank ich in Adrenalin. Warum? Ich hatte keine Ahnung! Verläßlich war nur der Abgrund.
Einmal rief der Abgrund mitten am Tag. Zuerst war nur ein Unwohlsein gewesen, ein leichter Druck in der Brust und eine beunruhigende Unkonzentriertheit, als wären die Gedanken in klebrige Netzen gefangen. Dann zog es am Herzen, die Kopfhaut zog mit. Ich fühlte mich wie ein Kartenhaus, das gleich zusammenbrechen würde. Mein Körper drohte mir, zu versagen, mich in die totale Verletzlichkeit zu jagen. Es reiche ein Hauch, dann wäre tot! Ich hielt es in der Wohnung nicht mehr aus und ging nach draußen. Die Treppe im Hausflur ging ich noch beherrscht herunter, um nicht aufzufallen. Dann lief ich zu einer großen Wiese, die zur fensterlose Wand einer Turnhalle führte. Das Licht gleißte in die Augen. Die graue Wiese drohte mich zu verschlingen wie ein Schlund! Schlürpp und weg! Für immer tot! Ich fiel auf die Knie, beugte mich zum Stoßgebet, drückte mein verzerrtes Gesicht ins harte Gras und schlug mit der Faust auf den Boden. Er gab nicht nach, der Boden blieb hart. Wütend schrie ich auf, wollte in das Dunkel absinken, und wollte es nicht. Ich stöhnte Luft aus meinen Lungen, die aus einer alten, ekelbehafteten Zeit zu kommen schien. Plötzlich regte sich ein Scheiß-Egal-Trotz. Er gab mir Hoffnung, vielleicht ging es mir auch plötzlich etwas besser. Ich richtete mich auf. Ein peinliches Gefühl umschlich mich. Ich schaute mich um. Der Boden unter meinen Füßen wurde wieder verläßlich. Ich spürte, es war vorerst vorbei. Mich quälte die Frage, ob ich verrückt sei und bald meinen Verstand verlieren würde. Ich schwor mir, alles zu tun, um nicht eingeliefert und ruhig gestellt zu werden. Einsam stand ich auf der dürren Wiese und sah mit verstörten Augen ins Ungewisse.
Nach diesem Tagalbtraum ging es mir von Tag zu Tag besser. Die Nächte wurden ruhiger. Der Frühling half, die jungen Blätter, der Vogelgesang, was ich alles zum ersten Mal erstaunt und berührt wahrnahm. Bettys Arzt half, ein Anthroposoph mit Kassenzulassung. Baldrian-Dragees halfen, immer dann, wenn Kopf und Körper mich vorwarnten. Es kamen Phasen der Hochstimmung, die Tiefstimmung in sich trugen. Es kam der Vorschlag des Arztes, eine Therapie zu machen. Zwei hochmotivierte Absolventinnen der Universität würden in seinen Räumen Psychodrama anbieten. Der Arzt schien zu sehen, was ich dachte und sagte, das höre sich schlimmer als es sei. Es sei eine schlichte Gruppentherapie, die durch die Gruppe, wenn es gut liefe, getragen würde. Ich traute mich nicht, nach den Kosten zu fragen, ich war mit Arbeitslosenschämen beschäftigt. Das schien auf meinem Gesicht zu stehen. Der Arzt verwies gleichmütig darauf, dass die Therapie auch für weniger zahlungskräftige Patienten gedacht sei. Für sechs Monate sollte es alle zwei Wochen eine neunzigminütige Sitzung geben. Trotz der Zweifel sagte ich zu. Wahrscheinlich auch, weil ich so schlecht Nein sagen konnte und unter keinen Umständen undankbar wirken wollte. Auch die Ausstrahlung des Arztes half mir bei der Entscheidung. Der Arzt war groß und schlank, trug einen gepflegten Bart, in seiner Stimme lag eine warme Sachlichkeit, für die ich dankbar war, die mir Sicherheit gab. Auch der Leidensdruck trug dazu bei, mich einer Gruppe von Gleichgestörten zu stellen. Ich sass regelmäßig in den verschütteten Kellern der Depression oder feierte wie ein Ping-Pong-Ball mein großartiges Leben: Großartig vor die Wand gefahren war es, großartig orientierungslos dazu. Großartig verfahren in den Liebesversuchen mit Betty war es. Betty, die ein Kind von mir wollte und die mein Leidensschwimmen mit Schnappatmung beantwortete, die mein Schweigen falsch deutete und allein auf sich bezog, so wie ich immer alles auf mich bezog. Wir sahen nur uns, selten den anderen. Wir waren kongenial neurotisch, aber auf sympathische Art, auf die Art, wie das nur zwei eigene Leben haben.
Damals fing ich an zu ahnen, dass alle Menschen ihre Wahrnehmungsbrillen tragen. Sie nennen das Wirklichkeit. Meine Wirklichkeit war das Anrennen gegen die Ungewissheit und der Versuch, meine Zerrissenheit zu deuten, ohne Worte dafür zu haben. Manchmal fühlte ich eine Vagheit im Kopf, die mich jeden Augenblick zu der Wahrheit führen würde, als läge sie bereits auf der Zunge und müsse nur ausgesprochen werden. Oder wie ein Geruch, der bereits wieder verschwunden ist, bevor das Hirn ein Wort dafür gefunden. Aber die Hoffnung verschwand so schnell wie sie gekommen war. Es gab keine erlösenden Worte, nur ein vorsprachliches Ahnen, nur eine gedankliche Fata Morgana. Ich suchte eine verdrängte Ursache für die gefühlte Minderwertigkeit, für die nächtliche Panik und für die hartnäckigen Gedanken, auf dem Holzweg zu sein, auf der Stelle zu treten und niemals wissen zu werden, was ich wirklich will. Die Bergung einer Ursache sollte meine Rettung sein. Ich fing an zu forschen in meinem Umfeld. Ich entdeckte bei meinem Arzt die Psychologie Heute, die ich mir regelmäßig kaufte und die mir Hoffnung auf leidenslindernde Erkenntnisse machte.
Ich stellte meine Mutter zur Rede. Sie wusste nicht, was ich von ihr wollte, als ich verlangte, sie solle mir sofort erzählen, was sie mir als Baby, als kleines Kind angetan habe, sonst würde sie mich nie wieder sehen. Sie saß da auf ihrem angestammten Küchenstuhl, mit den ewigen Kittel am Körper. Sie wusste nicht, wie ihr geschah. Sie brachte nur ein paar Sätze heraus, die mir ihre kindliche Elendserfahrung schlagartig deutlich machte. Ich hatte es auch schwer, sagte sie, auf Landverschickung in Tschechien war ich. Als der Krieg kam. Ich bin vergewaltigt worden! Dann musste ich zurück, meine Mutter wollte mich nicht mehr. – Sie senkte den Kopf, drückte ein Papiertaschentuch zusammen und verdrückte eine Träne. Schweigen. Dann sagte ich, verstehe, stand auf und ging ohne einen Trost. Hier war nichts zu holen. Alles lag an mir. Nur ich konnte mich retten, das dämmerte mir. Doch so schnell wollte ich nicht aufgeben.
Ich fragte vorsichtig bei Verwandten nach, aber ich spürte schnell, dass ich an falschen Adressen war. Sie gingen entweder nicht auf meine Fragen ein oder erzählten Anekdoten, die ich schon drei Millionen Mal gehört hatte. Später suchte ich eine Haushälterin auf, die vor Jahren für uns fünf Kinder gekocht und gewaschen hatte, als meine Mutter im Krankenhaus war. Sie mochte uns. Aber was sollte sie schon erzählen? Sie liess mich auf ein Glas Wasser in ihre Küche, hörte mir interessiert zu. Es täte ihr leid, dass sie nicht viel erzählen könne. Sie habe uns als tolle Kinder erlebt, hilfsbereit, witzig und intelligent. Ich staunte und begriff zugleich, dass ich auch hier an der falschen Adresse war und wohl nur Bestätigung und Zuspruch suchte, aber keine Antworten auf meine Misere. Sie verabschiedete mich mit einem warmen Lächeln und wünschte mir viel Glück, während ich bereits an meinem Fahrrad stand und mich bedankte.
Je mehr ich forschte, umso schneller drehte ich mich um meine Neurose, die zwischen Selbstabwertung, Selbstmitleid und aggressiven Trotz oszillierte. Mein Humor, der nie ganz versiegte, kam mir nur selten zur Hilfe. In den Jahren hat sich mir gezeigt: Neurosen hassen Humor. Zum genialen Gegenspieler der Neurose wurde mir die Selbstironie. Sie ist eine Art DIY-Therapie mit der schnellsten und kürzesten Intervention, die je eine Therapie erreicht hat. Aber ich brauchte noch lange Jahre, bis ich mit meinen Naturhumor die lauernden Triebe des Selbstmitleids zupfen konnte, ohne Gift und Bunsenbrenner. Damals hatte ich noch nicht die Mittel. Aber immerhin: Eine Therapie stand an. Und ich wollte sie.
Ich bin mir sicher, ich wollte die Therapie. Wie kam ich zu diesem Willen? Das ist das Interessante und nicht die Therapie selbst, flüstert mir mein Schreibgespür ins Hinteröhrchen. Ich habe noch etwas weiter in die Jahre davor abzutauchen, hallt ein subtiler Imperativ in meinem Kopf und der Bauch stimmt prompt mit ein. Ich will ihnen folgen, ohne zu wissen, wohin sie mich führen werden. Also tauche ich ab in ein dunkles Wasser und wenn es gut läuft, dann ertrinke ich nicht in Belanglosigkeiten, sondern tauche erstaunt mit Sätzen wieder auf, die aus meinen Erinnerungen eine Geschichte machen, die ich noch nicht erzählt habe.
Nach meiner dritten Kündigung erfand ich die produktive Arbeitslosigkeit (kurz bevor Betty kennenlernte, hatte ich mich in drei Arbeitswelten versucht). Die wollte ich leben. Tatsache. (`_´: Angeber!) Ich dachte sie mir als Ohrfeige gegen den Kapitalismus. Ich dachte sie mir als Freiraum für einen Weg aus der Abhängigkeit. Sie war ein Vorschuss für die Selbstfindung jenseits der Ausbeutung meiner Arbeitskraft. Aber den Vorschuss musste ich mir zuerst verdienen. Anderthalb Jahre vor meiner Metamorphose zum Punk und einig Wochen nach der Aufgabe meines ersten Ausbildungsplatzes fing ich bei einem Autokonzern als Schichtarbeiter an, um endlich genügend Geld zu verdienen. Damals dachte ich noch nicht daran, dass mir das Arbeitslosengeld zur sozialen Absicherung dienen könnte. Das dämmerte mir erst, als der Gedanke aufdringlich wurde, den Job am Fliessband zu schmeissen. Ich fing an, den Anspruch auf Arbeitslosengeld als verlockend zu begreifen. Selbst die Arbeitslosenhilfe, die mir nach dem Arbeitslosengeld zustand, würde noch ordentlich sein. Mit knapp neunhundert Mark ließen sich gut leben, wie sich ein gutes Jahr später herausstellte. Ich ging bei „Plus” einkaufen, fuhr kein Auto, bezog eine Sozialwohnung und schloß keine Versicherungen ab. Ein Vorteil war auch, dass ich die Kommerzwelt zum Kotzen fand. Nicht ganz, nur bis zu einem gewissen Grad. Gute Technik für meine Cassetten-Fanzines, ok, da war mir der Kommerz nicht zuwider, solcher Technik konnte ich schlecht widerstehen. Auch kaufte ich mir, als ich bereits ein paar Monate frei von abhängiger Arbeit war, eine elektrische Schreibmaschine. Eine Olympia. Zahlbar über sechs Raten, ein großes Versandhaus machte das möglich. Mein ganzer Stolz eine Zeit. Rot war sie und nützlich war sie auch, ein Werkzeug für meine Ideen. Ich wollte schreiben, Fanzines machen und mich weiterbilden. Das war mein ganz eigener Punkanspruch.
Mit dem Schreiben lief es zuerst gut. Ich fing einfach an, wie ich vieles einfach anfing. Ich schrieb Realsatiren, die sich über Rituale der Punks und die linke Szene lustig machte. Alltagsbeobachtungen, ziemlich spöttisch im Sprachduktus. Mir machte das Spaß. Ein halbes Jahr später hatte ich auf einer gewerkschaftlichen Kulturveranstaltung meine erste Lesung, neben anderen Autoren. Man hörte mir wohlwollend zu. Man bestätigte mir Talent. Danach erschienen ein paar Texte von mir in lokalen Zeitschriften. Ein linker Verlag aus Hamburg schickte mir gar einen jungen Lektor, nachdem ich ein paar Manuskripte in die Welt verschickt hatte. Jedenfalls, mein Leben fing an, abwechslungsreich zu werden.
Ich war herausgekrochen aus dem einsamen Loch, in das ich nach meinen Unfällen und nach Aufgabe meines letzten Ausbildungsplatzes gefallen war. Auch die linkssektiererische Wohngemeinschaft, in der ich über ein Jahr gewohnt hatte, verließ ich. Ich stand da mit nichts, ohne Wohnung, ohne Arbeitslosenkohle, die für zwei Monate gesperrt war. Zum Glück konnte ich bei meinen Eltern wohnen. Kaum floss nach zwei Monaten das Geld wieder, fand ich eine kleine Wohnung. In der Zeit des Wartens gab ich Kleinanzeigen in Programmzeitschriften auf, um gleichgesinnte Punks zu finden, die mehr wollten, als saufen, stänkern und demonstrativ in den Rinnstein pissen. Ich wollte nicht generell gegen alle sein, die keinen Nietengürtel, keine zerrissene Kleidung, keine verlotterten, kurzen Haare trugen. Ich wollte rechts und links nicht in einen Topf werfen. Ich verachtete die Frauen nicht und ich beschimpfte keine Obdachlosen. Ich sah mich als politischen Punk und die Musik, die ich hörte, gab mir recht: Dead Kennedys, The Clash, Slime, Hass, Crass, Die Alliierten. Kaum hatte ich gehärtete Seife für meine Haare und die Lackfarbe im Keller meiner Eltern für meine Lederjacke entdeckt, da lernte die Betty kennen, die mich zuerst im Stich liess und später ein Kind von mir wollte. Genau die Betty, mit der ich in Betty Beach war. Ich lernte sie in einer ehemaligen Gaststätte kennen, aus der ein paar geschäftstüchtige Hippies einen Treffpunkt für die linksalternative Szene gemacht hatten. Dass ich Betty überhaupt kennenlernte, hatte ich dem Zufall und Tom zu verdanken, einem jungen Punk, der unter dem Schwulsein und seiner Mutter litt. Er rief mich ab und zu bei meinen Eltern an, als ich dort die zweimonatige Strafzeit ohne Arbeitslosengeld absaß, nach dem ich zuvor bei Opel und danach den zweiten Ausbildungsplatz nach nur vier Monaten gekündigt hatte.
Ich sehe mich da sitzen auf der Couch in der Küche der zweiten Wohnung. Die hatten meine Eltern vor Jahren angemietet, um unsere Wohnsituation zu entschärfen. Zuvor wohnten wir als siebenköpfige Familie auf großzügigen sechsundfünfzig Quadratmetern. Und da immer mehr Familien der verrufenen Siedlung den Rücken kehrten und immer weniger nachzogen, war nebenan eine Wohnung freigeworden (die kinderreichen Familien wurden weniger). Dort hauste jahrelang eine kranke Frau mit ihrem Enkel. Der Enkel hatte viele Sommersprossen und wenig Freunde in der Siedlung. Er war als Einzelgänger und Stubenhocker verschrieen. Er fand Spaß daran, seinen Kanarienvogel vor die Wand zu schmeissen. Ekel-Temme drehe durch, hieß es dann. Irgendwann waren die Temmes nicht mehr da und einer meiner Brüder und ich konnten je eines der beiden kleineren Zimmer besetzen. Ich war zu der Zeit in der ersten Ausbildung als Elektroinstallateur und baute mir in dem Zimmer ein Lichtspiel auf. Überall stellte ich bunte, schwere Strahler auf, die meine Pflanzen beleuchten sollten, die ich irgendwo ausgrub oder mir schenken ließ. Über dem Bett hatte ich einen Blechkasten aus dem Elektronikladen, dort liefen die Kabel zusammen. In dem Blechkasten waren symmetrisch eine Reihe von massiven Kippschaltern eingefasst, darüber rote und grüne Leuchten, die signalisierten, dass 230 Volt ihren Dienst taten. Als das Werk fertig war, genoss ich eine Woche lang, auf der Matratze zu liegen und die Schalter über meinem Kopf zu bedienen.
Die Mieten für die kleinen Wohnungen der städtischen Wohnunterkunft waren günstig. Mit Einzug in das eingezäunte Paradies der Kinderreichen gingen Bürgerrechte flöten. Der Verwalter durfte kontrollieren, ob nach 22 Uhr kein Besuch mehr in den Wohnungen war. Aber er hütete sich. Er hielt sich stoisch aus allem heraus und sprach, im Einklang mit einem Teil der Bewohner, lieber der Flasche zu. So ermöglichte uns die jahrelange Mitgliedschaft im Club Sonnenburg, wie die Siedlung spöttisch gerufen wurde, eine Zweitwohnung, die das Zusammenleben in der Familie friedlicher machte. Wir konnten uns einfacher aus dem Weg gehen.
Als ich dort auf mein erstes Arbeitslosengeld wartete, waren die wilden Zeiten der vier Blöcke aus rotem Backstein und Beton längst vorbei. Ich sass allein in der Küche. Das Jahr 1983 war noch jung. Das Balkonfenster tauchte das Zimmer in sein graues Licht. Die Couch war ausgezogen, wie immer. Hinter mir das zerwühlte Bettzeug. Gegenüber stand der weisse Küchenschrank, auf den die gute Oma, von der ich anfangs sprach, stolz gewesen war. Sie hatte ihn nur ungern meinen Eltern überlassen, als sie in eine kleinere Wohnung ziehen musste. Die versetzen alles, rief sie manchmal aus.
Nach meinem trotzigen Auszug aus der Polit-WG habe ich viele Dinge einfach weggeschmissen, sogar Briefe. Es sollte ein Neuanfang ohne Ballast sein. Am Ende besass ich nur noch einen Gitarrenverstärker und zwei billige E-Gitarren, die sich nicht stimmen liessen. Auch hatte ich eine Spiegelreflexkamera, die „Canon AE 1”, die ich vor meinem Vater versteckte, damit er sie nicht zum Pfandhaus trug. Ich nahm sie nur noch selten in die Hand, um ab und zu ein Porträt meines Elends zu machen. So fotografierte ich mich mit spitz aufgestellten Haaren, von getrockneter Seife zuverlässig in Form gehalten. Aus meinen Augen schaut Traurigkeit, mein Gesicht ist eingefallen, auf den Lippen liegt Trotz, vielleicht auch Verächtlichkeit. Von meinen wenigen Klamotten war mir nur meine Motorradleckerjacke wichtig. Auch sie wurde Punk. Sie zeigte überzeugt farbige Lackschlieren, ein paar Nieten und Bekenntnisse wie Fuck Nazis und Scheiss System.
Da sass ich auf der Couch, die keiner mehr machen wollte, dürr und blass. Vielleicht war ich guter Dinge und wollte in die Stadt, um Tom zu treffen, von dem ich hoffte, dass er ein Freund werden würde. Kennengelernt hatte ich ihn über meine erste Kleinanzeige. Vielleicht schob ich auch Weltschmerzblues und dachte an die Gosse, die man mir prophezeit hatte. Kein Wunder, ich hatte nicht nur der Schichtarbeit bei Opel den Rücken gekehrt, sondern auch zwei Ausbildungsplätzen. Mein erster Beruf hieß je nach Sprachkompetenz entweder Elektroinstallateur oder Strippenzieher. Die Firma folgte dem Prinzip der billigen Arbeitskraft mit möglichst vielen Lehrlingen, um sie bevorzugt auf großen Baustellen mit Bauwagensiedlung einzusetzen, gebaut in der bayerischen Pampa. Die Berufsschule hatte ich bis zum letzten Zeugnis besucht. Sie hatte mir Spaß gemacht. Zum ersten Mal in meinem Leben begriff ich, dass ich nicht dumm war, wie ich immer dachte. Gleich in den ersten Monaten verlor ich die Angst vor den schulischen Anforderungen. Das hatte ich dem Klassenlehrer zu verdanken, der Fahlmann hieß und der mit Hochwasserhosen, Rauschebart und viel Humor das Beste aus den halbstarken Schülern herauszuholen wusste. Er schaffte es stets aufs Neue, selbst Mathematik und Fachkunde mit spöttischem Humor und einfach strukturierter Beharrlichkeit interessant zu machen. Als der Blockunterricht des dritten Lehrjahres vorbei war, wurde es düster um meine Stimmung. Mir blieben ein halbes Jahr nur Praxis, sprich, trostlose Arbeit auf trostlosen Baustellen. Fünf Tage die Woche. Ohne einen Berufsschultag oder weiteren Blockunterricht. Allein der Gedanke war mir unerträglich. Die Gründe für meine Abneigung waren gewachsen wie Unkraut zwischen Wegplatten. Da war der Ärger mit den beiden Chefs, weil ich mich weigerte, auf Fernmontage zu gehen und im stickigen Bauwagen zu wohnen. Zwei Wochen am Stück. Nicht nur einmal. Auch nicht gegen Lohn, sondern für Freistunden. Nicht mit mir! Meine Verweigerung wurde prompt belohnt. Man wies mir lehrreiche Baustellen zu, vorzugsweise Lagerhallen. Ich schob im dritten Lehrjahr Gerüste oder stand selbst darauf, um ungesichert und zwischen Springleranlagen dicke, schwere Kabel zu ziehen. Anstatt eine Verteilung zu verkabeln, stemmte ich Dosen aus den Beton oder bohrte Deckendurchbrüche. Von unten nach oben. Meine Beschwerde bei der Handwerkskammer hatte keinen Erfolg, obwohl man mir dort Intervention versprach. Entsprechend war mein Ansehen bei den beiden Geschäftsführern extraordinär. Gelegentlich gönnten sie mir auch stumpfsinnige Lagerarbeit, der mir immerhin einen pünktlichen Feierabend in Aussicht stellte. Dort ließ man mich aufräumen.
Einmal feilte ich selbstvergessen kleine Kupferquader. Darin stanzte ich Autonummern. Wunderschöne Schlüsselanhänger wurden das. Und damit sie noch schöner werden sollten, kam eines Tages der studierte Geschäftsführer ins Lager. Der Ingenieur, wie er entweder in despektierlicher oder in arschkriechender Tonlage genannt wurde. Der Ingenieur fuhr stets und demonstrativ mit schnittigem BMW vor. Die größte Hektik auf dem Hof war dann bereits vorbei. An einem Tag kam dieser Mann zu mir ins Lager. Mit seinem gut sitzenden Anzug sah er, im Gegenlicht kommend, wie eine unwirkliche Erscheinung aus. Die wollte mir zeigen, wie man die Kanten des Kupferquaders richtig rund feilt. Das Ergebnis war leider nicht sehr zeigenswert. Die Erscheinung hatte meine schöne Rundung ruiniert. Danach setzte sie zu einer Rede an. Sie wollte mich zur Besinnung bringen und appellierte an meine Vernunft. Es reiche, wenn ich einmal auf Fernmontage ginge, so wie alle Lehrlinge es täten. Manche machten das sogar gerne. Also könne es doch nicht so schlimm sein. Warum es sich unnötig schwer machen? Für mich würde es nur Vorteile bringen, ein Hand wasche schließlich die andere. Solche Sprüche am laufenden Band. Ich blieb stumm und sah knallhart auf die versaute Rundung. Die Erscheinung ärgerte sich, drohte freundlich mit Konsequenzen und verschwand. Schließlich stand die kleine Hektik des Feierabends bevor.
Die große Hektik gab es immer morgens. Sie wurde zuverlässig vom zweiten Chef, ein in die Geschäftsführung aufgestiegener Meister, mit fuchtelnder Tatkraft vorangetrieben. Ständig betraute er irgendwelche Herrn Von-und-zus mit Aufgaben, für die sie nicht zuständig waren. Beine machen war seine Leidenschaft. Der Mann hatte mich auch eingestellt und war beeindruckt gewesen, dass ich mit Dreisatz und Zinsrechnung keine Probleme hatte. Er staunte ironisch, dass ich so früh in meinem Leben elektrische Geräte wie Kofferradios und alte Staubsauger auseinander gebaut habe. Ich verschwieg, dass ich einige Male die Kraft elektrischer Ströme zu spüren bekommen hatte und sie überlebte. Er lobte meine Tatkraft, die in seinem Betrieb eine glänzende Zukunft haben werde. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit wohlgemerkt, Ende der siebziger Jahre. Er tat, als wäre meine Einstellung Güte und gab ein paar Anekdoten aus seiner Lehrzeit dazu. Eine Lehrzeit, dessen Härte mit Heute nicht zu vergleichen sei. Aber auch heute seien Lehrjahre keine Herrenjahre, das dürfe ich nie vergessen. Ich vergass es nie.
Einige Monate später trat ich meine erste Schicht an. Ich stand da wie einer, der von Tuten und Blasen keine Ahnung hat. Mitten im Gewimmel suchte ich Halt wie ein Nichtschwimmer, der schon ertrunken war. Ich wusste nicht, wo ich mich hinstellen sollte und wer für mich zuständig war. Das war dem zweiten Chef sofort ein Dorn im Auge. Alles, was einfach so dastand, war ihm ein Dorn im Auge. Mit fuchtelnden Armen befahl er mir, eine Trommel Kabel zu holen und ließ dabei ein kryptisches Wort fallen. Bevor ich eine Frage stellen konnte, sagte er im Weggehen: Ja, worauf warten sie noch! Nicht einschlafen! Glücklicherweise erbarmte sich ein stämmiger Geselle mit Gigolo-Schnäuzer. Er zeigte mir das Kabellager. Die Type des Kabels hatte ich vergessen. Ich wagte nicht nachzufragen und ging. Schnell weg, dachte ich mit Trotz und Versagensangst. Ja nicht heulen. Das war mein Einstand mit dem riesigen Gedanken: 40 Jahre! Das schaffe ich nie!
Rechne ich die Unterbrechung wegen meines Verkehrsunfalls hinzu, habe ich knapp vier Jahre später die Brocken geschmissen bei dem Verein. Ich erinnere mich an die Genugtuung, die ich am Telefon spürte, als ich dem Ingenieur meine Entscheidung mitteilte. Er reagiert zuerst betroffen und dann kiebig. Mir war das scheißegal, ich war froh, aus dieser Geschichte heraus zu sein.
Drei Wochen später fing ich bei einem Autokonzern an. Schichtarbeit im Akkord. Dafür endlich Kohle satt!
Die Arbeit bei Opel war kein Zuckerschlecken. Meine erste Schicht verlangte hohen körperlichen Einsatz. An meinem ersten Fließbandabschnitt arbeiteten vorwiegend ehemalige Facharbeiter. Sie machten jedes zweite Auto, ich sollte es mit jedem dritten versuchen. Ich musste mich in das noch nackte Auto setzten und fühlte sogleich das kalte Metall an meinem Arsch. Die Plastikverkleidung, die ich um das Lenkrad anzubringen hatte, bestand aus zwei Teilen und musste mit drei kleinen Schrauben befestigt werden. Die Schrauben fielen oft vom Drehschrauberzieher in den Fussraum und verschwanden spurlos. Auch waren die Schraubenmuttern aus Plastik nicht leicht zu treffen. Manchmal setzte sich ein vorlautes Kabel dazwischen. Das Band lief umbarmherzig weiter, das hat ein Fließband so an sich. Wenn ich zu lange in einem Auto werkelte, sprang ein Arbeiter mit spöttischen Kommentar oder der Vorarbeiter ein. Er wurde auch Springer gerufen und sah strenger aus als er war. Ich war nahe dran, die Brocken zu schmeissen, so dermassen kam ich ins Schwitzen. Versagensangst triezte und spornte mich an. Ich hielt durch und spürte am Ende der Schicht die Anerkennung des Vorarbeiters. Wieder zu Hause fiel ich mit schmerzenden Knochen ins Bett. Kurz vor dem Einschlafen fühlte es sich so an, als fahre mein Bett. Mein Körper war noch nicht zu Hause.
In den neun Monaten bei Opel wurde ich auf allen drei Etagen bis hinunter zur Rohmontage eingesetzt. Die Lenkrad-Verkleidungen erwiesen sich im Nachhinein für mich als eine der anspruchsvolleren Aufgaben. Letzteres drückte sich in einem gewissen Stolz oder einer ungeschminkten Überheblichkeit der Arbeiter aus, die dort bei höllischen Tempo von nicht selten über 600 Autos pro Tag jedes zweite Auto schafften und dabei noch Zeit für einen Plausch oder ein paar spöttische Spitzen hatten. Mir waren die anstrengenderen Arbeiten lieber, weil ich Wartezeiten hasste, wie sie zum Beispiel beim Einsetzen von Scheinwerfern anfielen. Je ein Arbeiter stand auf seiner Seite, die Scheinwerfer wurden in einem Nebenband in Körben zum Arbeiter gebracht. Man nahm einen heraus, setzte den Scheinwerfer ein und steckte ein paar Kabel. Das ging ruckzuck und häufig musste ich kurz auf den nächsten Scheinwerfer warten. Das machte die Arbeit anstrengender, weil dieses Warten nervtötend war. Neben mir arbeitete ein Türke mit mächtigen Schnäuzer, untersetzter Figur und einem fast ewigen Lächeln auf den Lippen. Er sagte manchmal, Hitler gut, Hitler gut und nickte anerkennend. Ich wunderte mich, dass ich ihn nicht an die Gurgel wollte, wahrscheinlich weil ich ihn nicht ernst nahm und weil er mir während des Ramadans ein Stück von einem seltsamen bröckeligen Brot gab, das höllisch gut schmeckte. Manchmal musste er auf die Toilette oder sonst was tun für ein paar Minuten, dann übernahm ich beide Scheinwerfer und das war in meinem Sinne. Unterforderung war stets Hölle für mich.
Einen Höhepunkt der Unterforderung durchlitt ich vor einer riesigen Stanzmaschine in der Rohmontage. Ich legte dort zwei Metallteile rein, zog eine durchsichtige Klappe herunter und drückte auf einen roten Knopf. Es blitze und zischte kurz, fertig. Raus damit und wieder zwei neue hinein. Zwar konnte ich finalen Wahnsinn auf Distanz halten, doch driftete ich nicht selten in Weltraumkriege ab. Die Blitze der Stanzmaschine waren Treffer der Konförderierten. So linderten Wahnvorstellungen das Leid der gedehnten Zeit. Nach einigen Tagen aber beschwerte ich mich. Das bescherte mir prompt einen Knochenjob auf der gleichen Etage: Riesige schräg stehende Haltevorrichtungen aus sauschwerem Eisen, die die Seitenteile der Autokarosserie trugen und die ich mit Kraft aus ihrer Schräge hochdrücken musste. Danach befestigte ich sie mit missmutigen Schraubzwingen an das nackte Chassis, damit der Schweißroboter ganze Arbeit leisten konnte. Nach acht Stunden war ich fix und alle. So lernte ich in den neun Monaten so nach und nach viele Arbeitsschritte kennen und versagte nicht. Ich staunte nicht schlecht über mich. Ich stand meinen Mann und ich vermutete, dass die Vorgesetzten meine flexible Einsatzfähigkeit durchaus zu pass kam, denn ich wurde trotz einiger Krankenscheine nie ermahnt und auch sonst gut behandelt. Aber das kann auch Einbildung sein. Früher oder später musste ich Opel jedenfalls enttäuschen. Ich kündigte und nahm eine einmonatige Sperre des mir zum ersten Mal zustehenden Arbeitslosengeldes in Kauf: Sagenhafte 1000 Mark und ein paar Zerquetschte.
Meine Entscheidung war sicher auch von einem permanenten Schlafmangel angetrieben. Frühschicht hieß, kurz vor vier quälte der Radiowecker mich aus dem Bett. Noch ganz benommen machte ich mir Kaffee und ging um halb fünf zur Straßenbahn. Der Arbeitsweg allein dauerte eine knappe Stunde. Viertel nach sechs war Schichtbeginn, viertel nach zwei Schichtende. Am Nachmittag döste ich häufig eine Stunde weg und war danach wieder putzmunter, so dass ich erst kurz vor Mitternacht die Augen schloss. Vier Stunden Schlaf im Schnitt, das hielt ich auf Dauer nicht aus. Die Spätschicht in der darauffolgenden Woche brachte zwar eine gewisse Erholung, weil ich länger schlafen konnte. Aber das Ausschlafen passierte nur, wenn ein todesähnlicher Schlaf mich vor vollendete Tatsachen stellte: Wecker nicht gehört! Ich brauchte aber vor Schichtbeginn um viertel nach zwei meine drei bis vier Stunden für mich und wollte auf keinen Fall vom Bett zum Kaffee direkt zur Arbeit fahren, um erst eine Stunde vor Mitternacht meine Freizeit zu beginnen. In der Nacht nach Schichtende lief nicht mehr fiel und schlafen konnte ich erst weit nach Mitternacht. Die Stunden nach Spätschichtende waren eine Art Dämmerfreizeit mit Wachträumen, Musik hören und lustlosen Klimpern auf der Akustikgitarre (die einzige Gitarre in meinen Leben, die laut Stimmgerät korrekt gestimmt werden konnte).
Während meiner Opelzeit war ich Mitglied in einem kommunistischen Bund. Wie es dazu kam, fällt mir sicher bald auch wieder ein. Jedenfalls formierte sich dieser Bund fleissig zur Partei und wenn nicht alle so fixiert auf den Parteitag gewesen wären, hätte meine Kündigung bei Opel sicher für mehr Einwände gesorgt. Schließlich sollte ich Arbeiter agitieren. Stattdessen tat ich den Teufel. Der Hitler-gut-Türke mit seinem leckeren Fastenbrot hatte mich schnell auf den Boden der Tatsachen geholt und die anderen Arbeiter waren mir so fern wie Affen im interstellaren Raum. Sie verdienten gut und taten ihrerseits den Teufel, um irgendetwas grundlegendes zu ändern. Im Alltag meiner Mitgliedschaft erklärte ich mich aber dazu bereit, an Werkstoren eines Stahlkonzerns aufmunternde Flugblätter zu verteilen und die feindlichen oder gleichgültigen Reaktionen der müde dahingehenden Arbeiter zu bestaunen. Oder ich agitierte meine Brüder oder Kumpels aus der Siedlung. Manchmal verteilte ich auf Demonstrationen gegen den Pershingwahnsinn sowie auf Flohmärkten die Zeitung des revolutionären Jugendverbandes. Die fand ich meistens stinklangweilig, ausser ich fand darin ein paar Fotos von mir. Fotografieren war nach einer langen Pause wieder meine Leidenschaft geworden und ich schaffte es in dieser Zeit auf einen Workshop sozial engagierter Fotografen (und wieder eine so ganz eigene Geschichte!). Der war von einem gewerkschaftsnahen Verlag organisiert worden. In einem Buch mit dem Wörtern „Alltag” und „sozial engagierte Fotografie” druckte man mich auf einer Doppelseite und verhunzte die fünf ausgewählten Fotos, in dem man sie unsensibel beschnitt. Nur meinen Text, den ich über den Alltag gelangweilter Jugendlicher in meinem Stadtteil schrieb, übernahm die Redaktion komplett. Meine kommunistische Peergroup sah meine künstlerisch ambitionierten Seitenwege eher kritisch. Ich dagegen fühlte mich nicht verstanden und sah mein Engagement für die neu gegründete Jugendzelle nicht gewürdigt. Immerhin hatte ich einen meiner Brüder und einen schüchternen Jungen aus der Siedlung als Mitglieder gewonnen, so dass eine neue Jugendzelle erst möglich wurde. Als später ein Funktionärsehepaar aus der Regionalleitung darauf drängte, dass ich Ortsvorsitzender der kleinen Jugendzelle werden sollte, wurde ich bockig und zog mich zurück. Ich machte mich dünner, noch dünner als ich wirklich war und ich war sehr dünn. In der Wohngemeinschaft mit den zwei Genossen kam das nicht so gut an und man stellte mir ein Ultimatum: Entweder Auszug oder Unterordnung unter die Parteidisziplin. Leider war Unterordnung nicht gerade meine Spezialdisziplin. Im Gegenteil.
10 Lesezeichen
Freitag. Ob dieser Babylon-Berlin-Typ jeden Freitag wildfremde Menschen mit Ein-Wort-Briefen beglückt? Ich sollte arbeiten, aber ich spüre Kauflust an diesem Morgen. Ich könnte in die City fahren, sicher wartet vielversprechende Belletristik auf mich. Ich lese sie weg wie warme Semmeln. Abends warten eh nur Bücher auf mich (°_° : Boah ey, übertreibt der wieder!). Ich kaufe immer mehr, als ich lesen kann, das ist die Anspruchssucht der kulturellen Öko-Elite, die ich mir abgeguckt habe. Im Kopf bin ich schon unterwegs in die City. Ich parke direkt am Stadtpark und laufe die paar Kilometer zu den Ladenzeilen. Dann könnte ich doch gleich nach dem Fremden Ausschau halten. Bei dem Gedanken komme ich mir albern vor, zugleich frage ich mich, wie dieser Typ ausgerechnet auf mich gekommen war. Zufall? Kennt der mich? Kenne ich ihn? Was bezweckt der mit diesem Spiel? Jetzt staune ich darüber, dass der Fremde mich dazu gebracht hat, mir die graue Masse aus dem Kopf zu schreiben. Die Blätter meiner Kladde werden langsam knapp. Einmal krampfte sogar der Daumen. (°_!: Zu wenig Magnesium oder was?) Ich hätte nicht gedacht, dass Handschreiben ohne Drang zur Tastatur noch geht.
Tatsächlich, ich bin im Stadtpark. Ich gehe zuerst zu der Bank, auf der ich saß, als plötzlich der Fremde vor mir stand. Es ist kurz vor elf. Keiner da. Ich gehe den schmalen Weg ab und schaue in die Abfalleimer. Vielleicht hat dort jemand einen Brief hineingeschmissen. (°_° : Lächerlich!). Ich schaue mir jetzt noch einmal die Richtung an, in die der Fremde verschwunden war. Der Fremde! Ich sollte ihm einen Namen geben. Der war so schnell weg! Oder war ich so vertieft beim Absuchen des Briefumschlags. Nein! Es war nur ein kurzes Schauen. Ich gehe den Weg des Fremden nach und finde einen kleinen Seitenweg zwischen zwei blühenden Rhododendron-Diven. Es geht also doch mit rechten Dingen zu! Als ob ich daran gezweifelt hätte (°_! : Nicht?) Ich folge dem Weg und gelange auf Sicht zu einer Häuserreihe. Gepflegte Bürgerhäuser mit verzierten Erkern, eigenwilligen Fenstern und halbrunden Balkonen. Beste Wohnlage hier. Nur ein Haus ist heruntergekommen (dass es noch nicht verhaftet und eingesperrt wurde!). Die schmalen Erkerfenster auf zwei Etagen sind verdreckt und eines hat eine Gardine, die in einem so trostlosen Grau ist, dass man sofort sterben möchte. Eine Rollade an einem mittleren Erker ist heruntergelassen und wirkt, als wäre sie zwölf Jahre nicht hochgezogen worden. Schmal schießt das Haus mit spitzen Dach in die Höhe und sieht aus wie ein Wehrturm zwischen den Schönlingen der Straße. Nahe dem Dachende und dort wo die Hausfront in der seitlichen Hauswand mündet, die ganz ohne Glas auskommt, ist ein schmales Fenster eingefasst und bricht wie ein nachträglich eingefasster Fremdkörper die Hausecke auf. Das könnte das Scheisshausfenster sein, das könnte aber auch gut als Filmfenster durchgehen, hinter dem ein Bösewicht seine Opfer seziert. Ich gehe den unbefestigten Weg hinunter zur Straße. Ich schaue mich um und tue so, als ob ich hier zufällig stehe. Ich suche die Fenster nach auffälligen Bewegungen ab und schaue in die Einfahrt, in der ein blauer VW Caddy steht. Sauber und geduldig wartet er auf seine nächste Verpestungsrunde. Ich sehe, das es neben dem Wagen zur Haustür geht und bewege endlich meinen schüchternen Arsch dahin.
Die abgewetzte Tür aus tausend Jahre altem Holz überrascht mit einem Bleiglasfenster in aufwendigen Geometrien. Rechts daneben fünf Briefkästen, zwei davon beschriftet. Ich zücke mein Demenzphone, wie ich es liebevoll nenne und fotografiere die vermackten und stumpfen Klappen der Briefschlucker. Brief! Ich hätte Lust in die Briefkästen hineinzulinsen und frage mich, warum ich vermute, dass der Fremde hier wohne. Oder hoffe ich es nur? Was habe ich mit dem Fremden zu tun? Wer so trostlos wohnt, ist selbst mir nicht geheuer. Aber das Auto ist top. Sauber, wie wochenendgewienert. Innen alles an seinem Platz. Ich schaue auf die beiden Namensschilder: Ekkehard & Kornelia Schallborn. Zwischen dem kaufmännischen Und der beiden Vornamen keine Leerzeichen. Wirkt insgesamt wie eine unbeholfene Visitenkarte aus weissen Plastik, die aufs stumpfe Metall geklebt wurde. Weiter oben der Name Herb. Katlewski. Herb.! Herbert? Der Name würde zu dem Fremden passen. (Ich nenne ihn jetzt den herben Herbert, haha.) Zwei Parteien auf drei Etagen incklusive Dachgeschoßwohnung also. Eigentlich sympathisch: Die scheren sich einen Dreck um Mietenoptimierung und Aussenwirkung. Ein sauberes Auto scheint ihnen aber wichtig zu sein. Ob es dem herben Herbert gehört, dem faulen Briefschreiber, diesem Mann aus dem Nichts?
So sieht das aus, wenn ich in Belanglosigkeiten abdrifte und sinnlose Sachen tue. Ein Unbehagen schleiert nun wie ein Wandernebel durch mein Gemüt. Ich tue so, als ob das gar nicht sein kann und bewege mich endlich aus der Einfahrt Richtung City. Neue Kladden nicht vergessen, denke ich unterwegs und frage mich, wie es mit meinem Text weitergehen könnte. Ich weiss es nicht. Ich beschleunige meinen Schritt. Der Verkehr nimmt zu, bis er schlagartig zum Dauerlärm wird. Bald bin ich in der Einkaufszone, die wie eine Schlange die Mitte der Stadt teilt. Ich bin froh, dass noch nicht so viel los ist. Ende des Monats halt und Mittagszeit. Von weitem sehe ich die Kauflust auf mein Hirn zukommen. Die unvernünftige, die ein betrügerisches Bedürfnis ist und der ich bereits hunderttausend Mal aufgesessen bin. Ich überlege, was ich noch kaufen könnte ausser Bücher. Es ist wie ein dummer Leichtsinn, knappes Geld aus dem Fenster zu schmeissen für Dinge, die man nicht braucht. Sie ersetzen etwas Altes, dass noch lange funktionieren würde, durch etwas Neues, das erfahrungsgemäß schneller kaputt geht mit immer neuen Features. Ich denke an einen neuen Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung. Ich habe zwei davon, einen großen und einen, den man in die Ohren stopft. Aber da gibt es einen neuen, der mich reizt, von einem Konzern, der auf hippe Technik macht, vorzugsweise in weiss; ein schöner Kontrast zum schwarzen Karma seiner gnadenlosen Menschen- und Ressourcenauspressung. Aber das ist mir jetzt einfach egal. Das blende ich locker aus. China, Menschenrechte, Kinderarbeit! Ganz schlimm, was in der Welt passiert für unsere Waren. Aber ich bin auch nur ein Konsument, der seinen Ansprüchen hinterherhinkt, der wie in einem Bunuel-Klassiker beim kollektiven Dinieren auf der Kloschüssel sitzt und über die Niedertracht in der Welt klagt. Die Konsumsucht widersteht jeder Moral. Sie ist wie eine Welle, die Vernunft und Einsicht, die Wissen und emphatische Kritik hinwegspült wie ein Tsunami das Leben am Strand. Wenn das einmal geschehen ist, dann ist es bereits zu spät, dann hält mich nichts mehr auf und ich kaufe. Aber bevor die Kaufsucht mich heute in ihre Zwangsjacke packt, wird sie angesprungen, als lande eine winzige Springspinne auf einen toten Gorilla. Wie mit einem blitzschnell scharfgestellten Auge sehe ich das Wort Leere über meine Seele krabbeln, in die all die Produkte der letzten vierzig Jahre hineingefallen waren und nichts hinterlassen haben. Wow! Das ist ja mal was neues! Das Bild wirkt! Ich brauche keinen neuen Kopfhörer für mein Wohlsein, hallt es unter meiner Schädeldecke. Aber das ist kein einfacher Gedanke, der kommt und geht, es ist ein gefühlter Gedanke. Ein Gedanke, der mich, betrachte ich ihn genauer, an die Quantenphysik erinnert (ich habe nichts mit Quantenheilung zu tun, damit das klar ist!): Diese Art von Gedanken ist Emotion und Vernunft zugleich. Dieser Gedanke oszillierte vor einer Sekunde in einem Seelenkern, der in der Mitte der Leere sitzt und eine ungeahnte Kraft entfaltet hat. Die Kraft, mich in meiner Bedürftigkeit zu sehen, ohne ins Elend zu fallen. Stattdessen schaue ich zu den vielen Schaufenstern, zu den Millionen von Waren, die keinen Zweck haben, ausser Müll zu machen und die Einsamen in ein falsches Glück zu locken. Ich betrachte eine an Ekel grenzende Trostlosigkeit, als krieche jemand auf kaltem Beton und suchte im Nichts um sich Herum die vertane Zeit. Da ist sie wieder, die fiese Faust in meiner Brust, die der Verlust als Rache schickt. Na und! Ich nehme sie einfach mit in die Buchhandlung. Spätestens wenn ich mit Witternase zu den literarischen Highlights finde und die ersten Klappentexte lese, habe ich den Schmerz vergessen. Er ist längst gezähmt, weil er mir nicht mehr fremd ist. Er ist ein Teil meiner Lebendigkeit. Quantenheilung, das ich nicht lache!
In der Buchhandlung, die ich bevorzuge, habe ich mich noch nie so richtig wohlgefühlt, obwohl ich sie schon lange kenne und seit Jahren regelmäßig besuche. Irgendein Staub hält mich auf Abstand, irgendeine Anspannung im Raum überträgt sich auf mich. Bevor ich diese Buchhandlung in den Achtzigern zum ersten Mal betrat, veranstaltete ich ein Drama der Überwindung. Ich traute mich lange nicht, hineinzugehen. Jetzt bleibe ich stehen, schaue mich um und habe jede Lust auf Kaufen verloren. Ich bin mir sicher, dass die Erinnerung an die alte Angst, als ich mich damals nicht in die Buchhandlung traute, zu meiner Geschichte gehört. Heute stehe ich nicht verloren vor der Buchhandlung, sondern einfach nur unschlüssig. Ich gehe nicht hinein, sondern zurück zu meinem Auto am Stadtpark. Dort angekommen, schaue ich noch einmal bei der Bank vorbei, vielleicht treibt sich der herbe Herbert dort herum. So ein Schwachsinn! Vergesse Herbert und fahre endlich nach Hause. Ein leckerer Kaffee wartet. Weiterschreiben wartet. Was geschah, nachdem ich bei Opel geschmissen hatte? Das ist die Frage jetzt! Da war auch was mit Angst, jetzt fällt es mir wieder ein.
© März 2023 by Wandelkern Lesermail